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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht
Autoren: Thomas Glavinic
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einem Zimmer ins nächste ging. Sorgfältig suchte er nach etwas, was Freitag abend noch nicht dagewesen war. An Martinas Telefon wählte er ein paar gespeicherte Nummern. Anrufbeantworter meldeten sich. Er redete wirr, stammelte, und zuletzt sagte er seine Telefonnummer. Mit wessen Anschluß er verbunden war, wußte er nicht.
    In der Teeküche nahm er eine Limonade aus dem Kühlschrank. Er trank sie ohne abzusetzen leer.
    Nach dem letzten Schluck drehte er sich abrupt um.
    Es war niemand zu sehen.
    Als er sich die zweite Dose nahm, wandte er den Blick nicht von der Tür. Zwischen dem einen und dem nächsten Schluck machte er Pausen, um zu lauschen. Er hörte jedoch nur das Zischeln der Kohlensäure in der Dose.
    Ruf mich bitte sofort an! Jonas.
    Er klebte das Post-it an den Bildschirm von Martinas Computer. Ohne noch einmal die anderen Zimmer zu kontrollieren, beeilte er sich, zur Tür zu kommen. Es war ein Schnappschloß, er sperrte nicht zu. Die Treppe hinab nahm er mit jedem Schritt drei Stufen auf einmal.
    Seit Jahren wohnte sein Vater im fünften Bezirk, in der Rüdigergasse. Jonas mochte die Gegend. Die Wohnung jedoch hatte ihm von Anfang an mißfallen. Zu finster, zu tief gelegen. Er liebte es, von oben auf die Stadt hinunterzuschauen. Sein Vater zog es vor, sich von Spaziergängern ins Wohnzimmer gaffen zu lassen. Aber er war es ja von früher so gewohnt. Seit Mutter gestorben war, wollte Vater es sich überdies bequem machen. Er lebte neben dem Supermarkt, und im Stockwerk über ihm ordinierte ein praktischer Arzt.
    Während der Fahrt in den fünften Bezirk kam Jonas der Einfall, Lärm zu schlagen. Er hupte wie im Autokonvoi einer Hochzeitsgesellschaft. Dabei zitterte die Tachonadel um die 20. Der Motor stotterte.
    Bestimmte Straßenzüge durchfuhr er zweimal. Er schaute nach rechts und links, ob sich eine Haustür öffnete, ob ein Fenster aufging. Auf diese Weise brauchte er für die kurze Strecke fast eine halbe Stunde.
    Vor dem Fenster seines Vaters stellte er sich auf die Zehenspitzen. Das Licht war aus. Der Fernseher lief nicht.
    Er nahm sich Zeit, die Straße zu betrachten. Jener Wagen berührte den Randstein, dieser parkte zu nahe an der Fahrbahn. Aus einem Abfalleimer ragte eine Flasche. Auf dem Sattel eines Fahrrads bewegte sich ein übergestülptes Stück Plastik sanft im Wind. Er zählte die Motorräder und Mopeds vor dem Haus, und er versuchte sogar, sich den Stand der Sonne einzuprägen. Erst dann zog er die Zweitschlüssel hervor und drückte die Haustür auf.
    »Papa?«
    Rasch sperrte er das obere und das untere Schloß zu. Er machte Licht.
    »Papa, bist du da?«
    Bevor er einen Raum betrat, rief er. Er versuchte, seiner Stimme Kraft und Tiefe zu verleihen. Vom Flur ging es in die Küche. Von dort wieder durch den Flur ins Wohnzimmer. Dann ins Schlafzimmer. Er vergaß Bad und Toilette nicht. Er steckte den Kopf in die Speisekammer, in der es kalt nach Gärung roch, nach Äpfeln und Gemüse.
    Sein Vater, der Sammler und Sparer, der schimmliges Brot mit Butter beschmierte und abgelaufene Konserven ins Wasserbad stellte, war nicht mehr da.
    Wie alle anderen.
    Und wie alle anderen hatte er keine Spur hinterlassen. Alles wirkte, als sei er eben hinausgegangen. Sogar seine Lesebrille lag wie üblich auf dem Fernseher.
    Im Kühlschrank fand Jonas ein Glas Gurken, die noch genießbar schienen. Brot gab es keines. Dafür stand auf der Anrichte ein Paket Zwieback. Das mußte genügen. Er hatte keine Lust, ein zweites Mal die Tür zur Speisekammer zu öffnen.
    Während er aß, versuchte er ohne große Hoffnung, einen Fernsehsender zu empfangen. Ganz verwerfen konnte er es nicht, denn ihm war eingefallen, daß der Apparat seines Vaters an eine Satellitenschüssel angeschlossen war. Vielleicht lag es ja nur am Kabelnetz, und die Sender waren über Satellit zu empfangen.
    Flimmern.
    Im Schlafzimmer schlug Vaters alte Wanduhr einen bedächtigen Takt. Er rieb sich die Augen. Streckte sich.
    Er schaute aus dem Fenster. Soweit er erkennen konnte, hatte sich nichts verändert. Das Stück Plastik wehte im Wind. Keines der Autos hatte sich bewegt. Die Sonne hing am gewohnten Ort und schien ihrer Bahn zu folgen.
    Er hängte Hemd und Hose über einen Kleiderbügel. Noch einmal lauschte er, ob etwas anderes zu hören war als die Wanduhr. Dann schlüpfte er unter die Decke. Sie roch nach seinem Vater.
    Es war halb dunkel. Im ersten Moment wußte er nicht, wo er sich befand.
    Im Halbschlaf vor dem Erwachen hatte ihn
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