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Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)

Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
Autoren: Gordon Dahlquist
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Metallkanten hatte ihr nicht den Schädel gespalten, und das Pochen der Stirnwunde hatte nachgelassen, nachdem sie den Kanal erreicht und ein paar Stunden im Schutz des Schilfs geschlafen hatte. Tastende Finger hatten ihr verraten, dass der Schnitt zu einer hinnehmbaren Schürfwunde verheilt war, und benommen, jedoch nicht mehr mit einem Gefühl von Übelkeit, war sie stundenlang zum Bahnhof von Parchfeldt gelaufen, wo sie schließlich einen Zug nach Stropping Station im Stadtzentrum bestiegen hatte.
    Sie war zum Hotel Boniface zurückgekehrt, weil ihre Feinde sie sowieso finden würden, egal, wo sie sich versteckte – sie musste ihren Bankier aufsuchen, sie brauchte Kleidung, sie musste Schläger anheuern, welche die Aufmerksamkeit jedes lauernden Feindes auf sich ziehen würden. Als sie nach vierzehntägiger Abwesenheit schmutzig und blutbefleckt am Hotel angekommen war, hatte das Personal lediglich höflich nachgefragt, ob sie einen Arzt brauche, bevor ihr ein Bad eingelassen werde, oder ob sie vorher gern eine Mahlzeit zu sich nehmen wolle.
    Sie hockte nackt in der Kupferwanne, bis das Wasser nur noch lauwarm war. Ein Dienstmädchen stand respektvoll mit frischen Handtüchern im Türrahmen des Ankleidezimmers und blickte nervös zwischen dem ausdruckslosen Gesicht der badenden Frau und dem scharfen Messer hin und her, das auf Miss Temples Wunsch hin auf einem Holzstuhl lag. Nachdem sie ausreichend angekleidet war, ließ sie sich von einem Arzt untersuchen, behielt dabei die Waffe allerdings im Schoß. Der weißbärtige Mann trug eine Salbe auf und legte ihr einen Stirnverband an, warf einen prüfenden Blick auf den verheilenden Streifschuss über ihrem Ohr und gab ihr ein Schlafpulver. Miss Temple bat um zwei Scheiben Brot, hörte jedoch beim ersten Anzeichen von Übelkeit mit dem Essen auf. Sie schickte das Dienstmädchen fort, verriegelte die Tür zum Flur und verkeilte sie mit einem Stuhl, tat das Gleiche mit ihrer Schlafzimmertür und rollte sich, das Messer unter dem Kopfkissen, in ihrem Bett zusammen, wie eine lauernde Schlange unter einem Stein.
    Sie schlief drei Stunden, bevor ihre Ängste sie weckten. Sie lag im Dunkeln. Chang. Svenson. Eloise. Diese drei Todesfälle ließen sich nicht ungeschehen machen.
    Ihr Überlebe n fühlte sich an wie Verrat, und noch die kleinste Annehmlichkeit wurde von einem Stich begleitet. Obwohl Miss Temple solche Stiche ihr Leben lang überstanden hatte. Am nächsten Morgen fertigte sie eine Liste all dessen an, was sie zu tun gedachte, und füllte damit sorgsam zwei Seiten. Sie legte den Stift weg und schnäuzte sich. In Wahrheit war es einfacher, sich ein Herz aus Stein zu bewahren. Sie klingelte nach dem Frühstück und einem Dienstmädchen, das ihr die Haare in Locken legen würde.
    Sie ließ bei ihrer Tante in Cap-Rouge um die Rückkehr von Marie (dasjenige ihrer eigenen Dienstmädchen, das lesen konnte) ersuchen und verbrachte dann den Tag damit – wobei sie Wert darauf legte, von den Dienern des Boniface begleitet zu werden –, sich um grundlegende Dinge zu kümmern: Bank, Kleidung, Waffen und, am wichtigsten, Neuigkeiten.
    Sie war nicht besorgt um ihre aktuelle Sicherheit. Als ihr Zug eingetroffen war, hatte es auf den Bahnsteigen von Stropping Station nicht mehr von Dragonern gewimmelt. Schutzmänner in braunen Mänteln waren geschickt worden, um die Massen unverhohlen feindseliger Reisender in Schach zu halten, doch es war ihre einzige Aufgabe, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und nicht, nach Flüchtlingen zu suchen. Sie hatte nirgendwo Plakate entdecken können, die ein Kopfgeld auf sie oder einen ihrer früheren Begleiter ausgesetzt hätten.
    Sie blätterte die Zeitungen durch, fand jedoch nur die alte Leier von einer bevorstehenden Krise: die Ministerien handlungsunfähig, der Kronrat in Auflösung begriffen, der Handel zum Erliegen gekommen. Für Miss Temple war das hervorragend: Je mehr die Welt in Schwierigkeiten steckte, desto freier könnte sie agieren. Sie machte sich auf den Weg, flankiert von zwei Hoteldienern und hocherfreut über ihre reizbaren Temperamente, die sie beim kleinsten Rempler zupacken ließen.
    Die Fahrt an diesem ersten Morgen führte an keinen Ort, der als Provokation gelten konnte – das heißt, sie wagte sich nicht in die Nähe des St.-Royale-Hotels, des Außenministeriums, von Stäelmaere House, der diplomatischen Vertretung von Mecklenburg oder des Wohnsitzes von Colonel Trapping und seiner Frau am Hadrian Square.
    All diese Orte
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