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Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Titel: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Autoren: Volker Kutscher
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versucht auszuweichen. Er ist stärker.
    »Lass mich los«, ruft sie, als sie ihren Mund endlich wieder frei bekommt.
    »Was ist denn? Eine Hure wie du kann doch gar nicht genug kriegen von den Männern, oder?«
    Der Mann zwingt sie mit festem Griff zu Boden, ins seichte Uferwasser, das plätschert, als sie versucht, sich zu wehren. Er ist böse, Tokala hat es gewusst.
    »Lass mich!«, schreit sie ihn an, doch der böse Mann lässt sie nicht, ihr Schreien geht unter in einem Gurgeln, ihr Kopf muss unter Wasser geraten sein.
    Tokala wendet seinen Blick ab. Und sieht eine andere Frau und einen anderen Mann, nicht im See, in einer Hütte, im Schein einer Petroleumlampe. Die Frau blutet über dem Auge, das Gesicht des Mannes ist gerötet, er ist betrunken und wütend, und er schlägt zu und zerreißt ihr das Nachthemd …

    Tokala schiebt das Bild weg und schaut wieder zum Seeufer, sieht, wie der Mann dort die Frau bedrängt. Etwas in ihm will eingreifen, doch eine andere Stimme hält ihn zurück. Er hat sich nicht einzumischen in die Welt der Menschen! Wie viele Männer gibt es drüben in der Stadt, die ihren Frauen wehtun? Das ist ihre Welt, und Tokala weiß, dass sie böse ist. Deswegen hat er sie verlassen. Die aus der Stadt mischen sich nicht in seine Dinge, und er mischt sich nicht in die ihren, so funktioniert sein Leben seit Jahren, und es ist das einzige Leben, das er sich vorstellen kann.
    Er erträgt den Anblick nicht länger, er muss zurück in seinen Wald, er kann keine Sekunde länger bleiben. Und während er langsam rückwärts schleicht, so wie er es gelernt hat aus den Büchern, sieht er noch, wie der böse Mann an ihrem Sommerkleid zerrt, und hört den Stoff reißen, er sieht, wie der Mann sich auf die wehrlose Frau legt und seinen Hosenschlitz aufknöpft, wie er sie mit dem anderen Arm zu Boden drückt und mit den Knien ihre Schenkel spreizt. Tokala hört sie schreien, und wieder erstickt ein Gurgeln ihren Schrei, als ihr Kopf kurz unter Wasser gerät. Und wieder sieht er die Frau mit dem zerrissenen Nachthemd, ihre leblosen Augen.
    Mit diesem Bild im Kopf läuft er fort, läuft in den Wald, läuft so schnell er nur kann, läuft weg von ihrer Welt und ihrer Gewalt, weit weg, so weit es nur geht.
    Das Böse ist zurückgekehrt, das Böse, vor dem er einst geflohen ist, vor dem er sich sicher gewähnt hat in seinen Wäldern.
    Er rennt und rennt, läuft fort vor seiner Vergangenheit, der er doch nicht entkommen kann. Als er den See schon weit hinter sich gelassen hat, bleibt er endlich stehen, mitten im Wald, und es brüllt und schreit aus ihm heraus, dass ringsum die Vögel aufflattern. So steht er da in seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht und schreit.
    Es geht nicht! Du kannst nicht an ihrer Welt teilhaben, ohne Schmerz zu erfahren, ohne das Böse zurückzurufen, nicht einmal als Beobachter kannst du das. Dies ist die Lektion, die du gelernt hast. Nun weißt du, bestimmter noch als sonst, warum du dich fernhalten musst von ihrer Welt, warum es das einzig Richtige ist, sich fernzuhalten von ihnen und in den Wäldern zu leben.

1
    S o dunkel und leer hatte Reinhold Gräf den Potsdamer Platz noch nie gesehen. Frühmorgens, Viertel nach fünf, die Leuchtreklamen waren längst erloschen, und die Gebäude, die den Platz säumten, ragten wie schwarze Felsen gegen den Himmel. Der schwarze Maybach, aus dessen Seitenfenster der Kriminalsekretär schaute, war der einzige Wagen auf der sonst viel befahrenen Kreuzung. Nicht einmal der Verkehrsturm war um diese Zeit besetzt, die Ampeln lauerten dunkel hinter dem Glas. Gräf drückte seine Stirn gegen das Autofenster und betrachtete die Regentropfen, die sich auf der Scheibe zu kleinen Bächen sammelten, in die der Fahrtwind blies.
    »Da ist doch schon Haus Vaterland «, meldete sich Lange vom Rücksitz, »das mit der Kuppel, oder?«
    Gräf antwortete nicht, er ließ den Fahrer halten und klappte das Fenster herunter. Der Schupo, der an der Stresemannstraße im Regen stand, hatte das Mordauto bereits erkannt und trat heran.
    »Lieferanteneingang, Herr Kommissar!« Der Uniformierte zeigte in die Köthener Straße und salutierte.
    »Kommissar kommt noch«, sagte Gräf. Er klappte die Scheibe wieder hoch und bedeutete dem Fahrer, rechts abzubiegen.
    Seine Laune war nicht die beste. Lange war der einzige Beamte, der mit rausgefahren war; der Kriminalassistent hatte ebenfalls Nachtdienst in der Mordbereitschaft. Christel Temme, die Stenotypistin, hatten sie aus dem Bett
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