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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition)
Autoren: Petra Morsbach
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man Halt, indem man erzählend in ein anderes Leben dringt? Diese Sidonie hat inzwischen ihre Sonnenbrille abgenommen und schaut mich mit staunenden grauen Augen an … ihr Haar ist schwarz … fast wie eine Italienerin, eine italienische Braut im weißen Rock … Italien, denke ich, » Italien«, sage ich, » war die erste Station meiner Flucht.« Das Stipendium in der Villa Tedesca … halbverlassenes italienisches Bergdorf, außer mir dort nur ein alkoholkranker Maler und zehn Greisinnen in Schwarz … Die Kälte, die Dusche im Keller … Der launische Verwalter, der sich mit Commendatore Schmidt anreden ließ und mich, als ich um Frühstück bat, anfuhr: » Was bilden Sie sich ein! Das ist kein Hotel, das ist eine Stiftung! Seien Sie froh, daß Sie hier wohnen dürfen!« Rückkehr nach Deutschland, auf Rat meines Verlegers in die Psychiatrie, ganz vergeblich, grauenhaft … Einmal machte ich einen Ausflug nach Speyer, das in der Nähe lag, und sah an der Glastür einer Apotheke den Aushang: Zweizimmer-Wohnung zu vermieten. Die Wohnung lag direkt in der Fußgängerzone und war warm, hell und ruhig. Erst nach meinem Einzug begriff ich, warum die Miete so günstig war: Außer mir wohnte niemand in dem Haus. Meine Vormieterin war verrückt geworden, sie verbarrikadierte die Tür mit einem Stahlriegel und schrie. Die Polizei sprengte die Tür auf und schaffte die Frau fort. Kein Wunder, daß die durchdrehte in dem leeren Haus – ich könnte dort verwesen, ohne daß es einer merkt. Zuerst dachte ich: Fußgängerzone, da ist’s schön still, aber das stimmte nur zeitweise: Zweihundert Meter weiter steht der Dom, das Wummern der Glocken ging mir durch Mark und Bein …
    Ich starre Sidonie an. Schwerstes Geläut jetzt auch hier; in dem Dorf von sechstausend Einwohnern gibt es ein Dutzend tonnenschwere Glocken, die dröhnen wie fürs Ende aller Tage … und durch dieses stählerne Wabern schwebt gelassen, als würde sie es nicht hören, Irene Ammann herbei, lächelt uns zu, hebt entschuldigend Stift und Block … klar, muß dichten … setzt sich auf das niedrige, breite Mäuerchen, Rücken gegen den Torpfosten, Beine hoch, und dreht ein paar Samsons. Ich will auch rauchen – Schachtel leer – kein Essen, keine Zigaretten, das unerträgliche Geläut – ich will aufspringen, kann nicht, Fuß schmerzt – langsam … Und jetzt auf einmal steht Robert mit einem Tablett vor uns. Barfuß wie immer, ich hasse das … mit einem Tablett! Will mit uns essen, das will er sonst nie – hat offenbar durchs Fenster die neue Frau gesehen. Auf dem Tablett Brot, Margarine, Käse, Tomaten, Chianti für 2 Mark 99, nicht lachen, Sidonie, gestrandete Ossis ernähren sich billig, du kannst uns ja zeigen, wie eine Westschnepfe es besser macht.
    Robert begrüßt Sidonie, ohne sie anzusehen, und reibt sich die picklige Stirn. Irene hinten auf dem Mäuerchen steckt sich mit zarten gelben Fingern die erste Samson an. Fünfzehn Schritte zu ihr, riskiere ich das? Soll ich Robert bitten? Sinnlos bei dem Lärm, also Schweigen, Robert mampft, Sidonie nippt Wein, und ich kämpfe gegen das Jüngste Gericht in mir.
    Allmählich verebbt das Geläut. Aufatmen … Grillen zirpen, die Linde knistert, ein Windhauch trägt Traktorengebrumm und Heuduft herbei. » Das war unser Staverfehner Klöppelkrampf«, erklärt Robert. » Den kriegen Sie jetzt jeden Sonntag von 17.50 bis 18.18 Uhr.« Gleich wird er davon anfangen, daß er eigentlich Mathematiker ist, immer rühmt er sich seiner Akkuratesse mit Zahlen, aber diese Unterhaltung überlasse ich ihm nicht, noch bin ich mit meinem Unglück nicht zu Ende.
    » Eine Ewigkeit«, unterbreche ich. » Ein endloser Vorwurf, Versäumnis, Schuld.«
    » So ist das, glaube ich, nicht gemeint«, bemerkt Sidonie zögernd.
    » Aber so klingt es. Und so wirkt es. Einmal riß es mich in Speyer aus dem Schlaf, und ich bin gestürzt, weil ich hochtaumelte, um das Fenster zu schließen. Knöchel geprellt, Sehne gerissen, deswegen der Gips. Kurz darauf fiel ich gegen das Klavier, als ich, schlaftrunken aufstehend, versehentlich den geprellten Fuß belastete.« Ich hebe mein bandagiertes Handgelenk. Mitleid hilft ein bißchen, ich brauche das Mitleid einer Frau.
    » Die Glocken sind schuld«, faßt Robert zusammen.
    Hat Sidonie gekichert?
    » Nicht nur, natürlich. Ich war in schlechter Verfassung, das habe ich schon gesagt. Ich hatte Sorgen. Dann der Autounfall – Schulden wegen des Unfalls, das teure Auto …«
    » Silberner
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