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Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Titel: Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Autoren: Thilo Sarrazin
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überhaupt erst ermöglicht: Klimatische, geografische, technologische, kulturelle, machtpolitische und demografische Voraussetzungen müssen sich zu einem bestimmten Amalgam vermischen, damit gerade diese Gesellschaft entsteht. Wenn sich dieses Bündel von Bedingungen ändert, ändert sich auch die Gesellschaft. Mit dem technischen Fortschritt sowie der wachsenden Interaktion innerhalb von Gesellschaften und zwischen ihnen setzte mit dem Ausgang des Mittelalters eine Beschleunigung des Wandels ein.
    Die Existenzbedingungen gesellschaftlicher Formationen ändern sich unablässig, wenig bleibt, wie es ist. Nicht immer sind es Änderungen zum Positiven, wie die schrecklichen Verirrungen des 20. wahrhunderts zeigen. Aber es gibt auch zähe Elemente gesellschaftlicher Stabilität, die über lange Zeiträume dem Wandel trotzen. Dazu zählen die regionalen und nationalen Eigenheiten der Völker. Es ist eben nicht dasselbe, wenn zehn Sizilianer und zehn Friesen das Gleiche tun. Solche zähen Elemente sind ferner der Einfluss der Religion, 3 die überkommenen Gebräuche, die Bande der Familie und der Respekt vor dem Alter. Dieser Kitt wirkt stabilisierend gegen die Tendenz zur Entfremdung nicht nur des Einzelnen, sondern großer gesellschaftlicher Gruppen, ganzer Gesellschaften und ganzer Völker. Doch kommt es zu kritischen Situationen, ergeben sich ideale Voraussetzungen für politische Umstürze und kriegerische Auseinandersetzungen. Die Entfremdung ist ausgeprägter in Zeiten starken Wandels oder katastrophaler Umbrüche, wozu Kriege, Epidemien wie die mittelalterliche Pest oder Naturkatastrophen zählen.
    Neben den Zeiten starken Wandels gab es immer wieder Zeiten,
in denen man sich über mehrere Generationen hinweg sicher aufgehoben fühlen durfte im Kreislauf einer nur von Krankheit und Tod bedrohten und scheinbar unveränderlichen, wohlgeordneten Welt. Wer in solchen Verhältnissen lebte, wähnte sich in einer natürlichen Ordnung geborgen und der besten aller Welten zugehörig, auf einem Niveau, von dem aus es nur noch bergab gehen könne. Das waren die goldenen Zeitalter, von denen immer wieder berichtet wird. Es gab viele davon, mal über zwei, mal gar über zehn Generationen andauernd - Epochen, in denen es örtlich begrenzt so schien, als stehe die Geschichte still, weil etwas Perfektes, nicht mehr Verbesserungsfähiges geschaffen war.
    Über Richtung und Qualität des gesellschaftlichen Wandels entscheidet neben den äußeren Anstößen, die nicht weiter beeinflussbar sind, die Mischung aus Beharrung und Veränderung. Die ganz unterschiedliche Entwicklung zwischen der britischen und der russischen Gesellschaft ist ein extremes Beispiel dafür. Beide Reiche wurden einst von Wikingerstämmen gegründet (die Waräger im Falle Russlands, die Normannen im Falle Englands), und doch nahmen sie sehr unterschiedliche Wege.
    Die berühmten »goldenen Zeitalter« haben sich stets dadurch ausgezeichnet, dass ihr Fundament die jeweils richtige Mischung aus Stabilität und Elastizität aufwies, denn ohne Stabilität gibt es keine Dauer und ohne Elastizität keine Überlebensfähigkeit. 4 Aber nichts bleibt eben, wie es ist. Gerade unter dem schönsten Baum sitzt immer schon der Wurm, der an der Wurzel nagt und später die Krone zum Welken bringt. Der späte Willy Brandt sagte einmal sehr schön: »Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist von Dauer.« Auf ganz lange Sicht ist sowieso alles menschliche Tun vergeblich, aber hilflos den historischen Geschicken ausgeliefert sind wir auch nicht.
    Wie das meiste im Leben ist auch der Inhalt dieses Buch ambivalent: Die hier beschriebenen Trends nagen an den Wurzeln von materiellem Wohlstand und gesellschaftlicher Stabilität, aber es gibt immer Ansatzpunkte, manches zum Positiven zu wenden. Man muss es nur tun!

1 Staat und Gesellschaft
    Ein historischer Abriss
    Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
    JOHANN WOLFGANG GOETHE, Faust I
     
    Es ist ein rätselhafter Mechanismus, der Wirtschaft und Gesellschaft antreibt: Einerseits unterliegt er keinen starren Regeln, andererseits ist er von Gesetzmäßigkeiten geprägt, die zum Teil örtlich und historisch an bestimmte Gesellschaften gebunden sind, sich teilweise aber auch aus stabilen Elementen der menschlichen Grundverfasstheit ergeben.
    Reden wir von der Gesellschaft oder versuchen wir gesellschaftliche Verhaltensweisen zu typisieren, so tun wir dies meist aus einem implizit gesetzten Normengefüge
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