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Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen

Titel: Deutschland schafft sich ab - Wie wir unser Land aufs Spiel setzen
Autoren: Thilo Sarrazin
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3 Millionen Einwohner haben. Warum sollte uns das Klima in 500 Jahren interessieren, wenn das deutsche Gesellschaftsprogramm auf die Abschaffung der Deutschen hinausläuft? 2
    In einer Welt ohne Gott hat der Zustand der Natur keinen Eigenwert, höchstens als Lebensumwelt der Menschen, also aus einer aus dem Individuum abgeleiteten Rechtfertigung heraus. Diese Rechtfertigung entfällt jedoch mit den Individuen selber. Tatsächlich ist es aber so, dass die meisten von uns entgegen aller Logik sozialen Organisationen gleichwohl einen über das Individuum hinausweisenden Eigenwert zusprechen: Viele Mitarbeiter lieben das Unternehmen, in dem sie jahrzehntelang gearbeitet haben, andere ihren Fußballverein, wieder andere ihre Stadt, ihr Land, ihr Volk. Dass wir diesen Entitäten einen Eigenwert zumessen, der über uns selbst hinausweist, motiviert uns, hebt uns, macht uns stolz, gibt uns Antriebskraft und lässt uns unsere eigenen kleinen Wehwehchen und größeren Leiden vergessen. Nur wenn es um Deutschland geht, haben viele eine Schere im Kopf:
    • Heimatverbunden? Aber gerne!
    • Lokalpatriot? Natürlich!
    • Europäer? Sowieso!
    • Weltbürger? Klar doch, das gehört sich so!
    • Deutscher? Nur bei der Fußballweltmeisterschaft, sonst eher peinlich!
    Sich um Deutschland als Land der Deutschen Sorgen zu machen, gilt fast schon als politisch inkorrekt. Das erklärt die vielen Tabus und die völlig verquaste deutsche Diskussion zu Themen wie Demografie, Familienpolitik und Zuwanderung. Ich glaube, dass wir ohne einen gesunden Selbstbehauptungswillen als Nation unsere gesellschaftlichen Probleme aber nicht lösen werden.
    Das wirtschaftlich vereinte und außenpolitisch handlungsfähige
Europa wird auch in 100 Jahren noch aus Nationalstaaten bestehen, die dezidiert polnisch, dänisch, französisch, niederländisch oder britisch sind. Nur auf dieser Ebene gibt es eine wirkliche demokratische Legitimation, und nur dort kann man die Kraft zur gesellschaftlichen Erneuerung finden - oder eben auch nicht. Die Hoffnung, der Nationalstaat werde sich in Europa auflösen, ist ein spätes Produkt deutscher Weltflucht mit durchaus ambivalenten Zügen, denn sie projiziert letztlich den Reichsgedanken auf die europäische Ebene - übrigens nicht ganz ohne historischen Bezug: Das Europa der Sechs entsprach in seinen regionalen Grenzen ziemlich genau dem Frankenreich unter Karl dem Großen.
    Sobald man den Lauf der Geschichte beklagt und als ungünstig empfundene Trends umkehren möchte, ist man in Gefahr, unhistorisch zu werden, der Nostalgie zu verfallen und wichtige Momente der richtigen Einflussnahme zu verpassen. Wie ein Fluss ändert sich der Strom der Geschichte beständig und kehrt niemals in sein altes Bett zurück. Doch vor der Nostalgiefalle muss sich auch jeder hüten, der Gutes bewahren will und nicht die Veränderung als solche gutheißt.
    Der Realist akzeptiert, dass jeder historische Zustand eine Medaille mit zwei Seiten ist: Die traditionelle Idylle des Landlebens verträgt sich nicht mit der modernen Landwirtschaft. Die Sicherheit der Tradition und eines klaren Wertekanons verträgt sich nicht mit dem Tempo des technologischen Wandels. Das Aufgehobensein in der eigenen regionalen und nationalen Besonderheit verträgt sich nicht mit vielen Folgewirkungen großer Migrationsprozesse. Nirgendwo und niemals kann man den Kuchen essen und zugleich behalten. Realismus ohne Zugaben von rückwärtsgewandter Nostalgie und nach vorne gerichtetem Gestaltungswillen ist aber ziemlich platt und banal und von Fatalismus oder Wurstigkeit kaum zu unterscheiden. Natürlich läuft man leicht Gefahr, die länger werdenden Schatten des eigenen Lebens mit der Verdüsterung der Weltperspektive zu verwechseln. Auf meine hier vorgetragenen Überlegungen trifft das wohl nicht zu, denn diese Fragen haben mich über die letzten 30 Jahre intensiv und kontinuierlich beschäftigt.

    Wer bestehende historische Trends beklagt und verändern will, sollte sich geschichtsphilosophisch ein wenig selbst vergewissern: Hängt man einfach nur an vergangenen Werten und Zuständen und beklagt die persönliche Entfremdung, die der Zeitenwandel mit sich bringt? Doch es ist keineswegs so, dass jedes Unbehagen an der Richtung und den Folgen gesellschaftlichen Wandels unter den Generalverdacht rückwärtsgewandter Nostalgie fällt.
    Jede historische Gesellschaftsformation, wie lang sie auch immer andauern mag, besteht aus einem Set von Bedingungen, der sie
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