Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation

Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation

Titel: Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation
Autoren: Arno Schmidt
Vom Netzwerk:
Verräter an unsern sozialen Errungenschaften. Lieber ärmlich, und mehr arbeiten, und abends in der Wohnlaube in unserer Kolonie draußen ! Gemeinsame Aufmärsche?: Du nimmst jetzt wohl teil an der Springprozession zu Echternach ? Westliche Freiheit ?: heißt das, daß Abgeordnete straflos gekauft werden dürfen? (Und die Geldspender können 's noch von der Steuer absetzen!). Kleinstautos?: Wir bauen nur große, geräumige Wagen. Paul hat im Schachturnier den zweiten Platz belegt; und eine Zweizimmerwohnung für uns kostete hier 35 Mark Miete. Ich lerne jetzt schießen, mit der Maschinenpistole.«
Ich trat in die Badenische; nackt. Ich repetierte mir unsere fünf herrlichen Inseln: Tristan, Inaccessible, Nightingale; Middle and Stoltenkoff (›and‹, nicht ›und‹!). Wenn ich auch früher Deutscher gewesen war – das war längst überwunden; ich beschrieb nur noch.
VII
    Nackt das letzte Stück: Paul Sanders; Grenzübergang Marienborn, den 30. 5. 1956; an Fräulein Erna Sanders, Ostberlin :
»Schwester ! Gestern wurde, beim Versuch, erneut die Zonengrenze zu überschreiten, von Posten meiner Volkspolizei=Einheit der Schweißer Gerd Schäfer aus Westdeutschland erschossen. Ich weiß, er liebte Dich. Aber, freue Dich, Genossin : er war ein Verräter an unserer Deutschen Demokratischen Republik !«
Etwas Langes, Hartes, Blauäugiges, schritt beständig im Planetarium meines Schädels. Ich schob die drei Briefe in einen großen Umschlag, adressierte ihn an Erna, und klingelte dem Boy.
(Dann begannen die Tabletten zu wirken. Ich runzelte die Stirn, schon im Bett, und drapierte mich sorgfältig auf die rechte Seite; nur so kann ich einschlafen).
    [1956]

FLÜCHTLINGE, OH FLÜCHTLINGE !
    »Auf dem Zonengrenzbahnhof Buchen traf ein weiterer Aussiedlertransport aus den polnisch verwalteten deutschen Ostgebieten ein; es handelt sich um 263, meist ältere, Männer und Frauen, hauptsächlich aus dem Raum Breslau.« Dann folgen aber auch schon gleich die weiteren Nachrichten : wie der amerikanische Sputnik wiederum nach hinten losging; wie in Little Rock alles ruhig sei (und überhaupt gar nicht so schlimm gewesen !); und Frankreich hätte nun endlich den Algeriern das großzügige Angebot gemacht, ihnen die Hälfte der Sitze in einem zu schaffenden Parlament zu überlassen – was kann man mehr verlangen, wo doch bevölkerungsmäßig auf 1 Franzosen höchstens 10 Algerier kommen ?!
    Aber bei den Millionen Hörern, die selbst Flüchtlinge sind, bleibt, und aufs Schwermütigste, die erste Meldung haften:
    12 ½ Millionen waren es damals (von denen 2 ½ Millionen auf der Flucht zugrunde gingen !); und der Strom reißt nicht ab – hat die Welt jemals dergleichen gesehen ?
    Eine Untersuchung solcher empörten Frage führt zu den merkwürdigsten Resultaten; nicht nur hinsichtlich des historischen Materials, sondern vor allem der Ursachen solcher Völkerwanderungen – wobei man gleich erst einmal gegen die Verniedlichung des Großelends durch die Sprache protestieren muß : den Begriff des ›Wanderns‹ damit zu koppeln
    – »Wer recht in Freuden wandern will« – ist doch wohl, gelinde ausgedrückt, mißlich).
    Soweit überhaupt schriftliche Urkunden reichen, findet man auch den Begriff der »Refugies; Umsiedler; Emigranten;« oder wie die armen Teufel immer beschönigend benannt werden mögen. Schon die Bibel weiß das im Anfang – und ich meine jetzt nicht die ›Vertreibung aus dem Paradies‹ – sondern den Auszug von 3 Millionen Kindern Israel aus Ägypten; die Gründe dazu mögen gewesen sein, was man will, ob die theatralische Motivation des betreffenden Buchs Mose, oder die wesentlich realistisch=bösartigeren Angaben des Tacitus. Es traf sie immer wieder, die Juden, dieses ›ihr‹ Schicksal par excellence; ob sie 70 Jahre lang »An Wasserflüssen Babylons« sitzen mußten, oder zweitausendfünfhundert Jahre später in die deutschen KZ's ›wanderten‹.
    Allerdings sei hier gleich eingeschaltet, daß man sich jüdischerseits in all den Jahren sehr wohl auf die gleichen Praktiken verstand; wer die Geduld dazu hat, mag sich selbst die zahllosen Beispiele zusammenstellen : vom Alten Testament an, wo die Bewohner der Städte regelmäßig erst »mit der Schärfe des Schwertes geschlagen« werden, und anschließend, immer zu Zehntausenden, »weggeführt«. Bis zur Gründung des neuen Staates Israel, aus dem auch erst 700.000 Araber ›ausgesiedelt‹ wurden !
    »Von Osten kamen wir heran – und um den Westen war's
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher