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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten
Autoren: Ian McEwan
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hin und glättete mit der Breitseite eines kurzen Bretts die Oberfläche. Ich stützte mich hinter ihm auf meine Schaufel. Er stand auf, hielt sich am Zaun fest und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, blinzelte er, als wäre er überrascht, sich hier zu finden, und sagte, »Na, dann wollen wir mal weitermachen.« Wir wiederholten den Vorgang, die Eimerladungen durch die Kohlenluke, die Schubkarre, das Wasser, das Mischen, Verteilen und Glätten.
    Bei der vierten Runde wurden meine Bewegungen von Langeweile und den altbekannten Sehnsüchten langsamer. Ich gähnte des öfteren und fühlte mich schwach in den Kniekehlen. Im Keller steckte ich die Hände in die Unterhose. Ich fragte mich, wo meine Schwestern waren. Warum halfen sie nicht mit? Ich reichte meinem Vater einen Eimer voll hinaus und sagte zu seinem Umriß, ich müßte aufs Klo. Er seufzte und machte dabei ein Geräusch mit der Zunge gegen den Gaumen. Oben angekommen, seiner Ungeduld bewußt, bearbeitete ich mich hastig. Wie immer hatte ich dabei das Bild von Julies Hand zwischen Sues Beinen vor mir. Von unten konnte ich das Scharren der Schaufel hören. Mein Vater mischte den Zement selber. Dann geschah es, es erschien ganz plötzlich auf meinem Handgelenk, und obwohl ich aus Witzen und Biologieschulbüchern davon wußte und seit vielen
    Monaten darauf gewartet hatte, in der Hoffnung, nicht anders als die andern zu sein, war ich jetzt doch erstaunt und bewegt. Auf dem flaumigen Haar, hingezogen über den Rand eines grauen Betonflecks, schimmerte eine kleine flüssige Spur, nicht milchig, wie ich gedacht hatte, sondern farblos. Ich tupfte mit der Zunge daran, und es schmeckte nach nichts. Ich starrte es lange an, von ganz nah, um die kleinen Dinger mit den langen flimmernden Schwänzchen zu finden. Wie ich es betrachtete, trocknete es ein zu einer kaum sichtbaren, glänzenden Kruste, die Risse bekam, als ich mein Handgelenk beugte. Ich beschloß, sie nicht abzuwaschen.
    Mir fiel ein, daß mein Vater wartete und ich ging rasch hinunter. Als ich durch die Küche lief, standen meine Mutter, Julie und Sue herum und redeten. Sie schienen mich nicht zu bemerken. Mein Vater lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, sein Kopf ruhte auf dem frisch verteilten Zement. Das Brett zum Glätten hielt er in der Hand. Ich ging langsam näher und wußte, daß ich nach Hilfe laufen mußte. Mehrere Sekunden lang konnte ich mich nicht wegbewegen. Ich starrte voller Staunen, wie wenige Minuten zuvor auch. Ein schwacher Luftzug lüpfte einen losen Zipfel von seinem Hemd. Anschließend gab es viel Lärm und Hin und Her. Ein Krankenwagen kam, und meine Mutter fuhr darin weg mit meinem Vater, der unter einer roten Decke auf einer Tragbahre lag. Im Wohnzimmer weinte Sue, und Julie tröstete sie. In der Küche spielte das Radio. Als der Krankenwagen fort war, ging ich nach draußen, um unseren Pfad anzuschauen. Ich hatte keinen Gedanken im Kopf, als ich das Brett aufhob und Vaters Abdruck in dem weichen, frischen Zement sorgfältig wegglättete.
      
      
2
    Im Jahr darauf trainierte Julie, um in die Leichtathletikmannschaft ihrer Schule zu kommen. Die lokalen Rekorde im 90- und 200-Meter-Sprint in der Gruppe der Unterachtzehnjährigen hatte sie schon. Sie konnte schneller laufen als irgendjemand, den ich kannte. Vater hatte sie nie ernst genommen, er sagte, Schnellauf wäre etwas Dämliches für ein Mädchen, und nicht lang vor seinem Tod weigerte er sich, mit uns zu einer Sportveranstaltung zu kommen. Wir setzten ihm heftig zu, sogar Mutter beteiligte sich. Er lachte über unsere Erbitterung. Vielleicht wollte er wirklich noch hingehen, aber wir ließen ihn allein und waren beleidigt. Weil wir ihn an dem betreffenden Tag nicht nochmal aufforderten, vergaß er es, und sein letzter Lebensmonat ging vorbei, ohne daß er seine ältere Tochter als Star des Sportplatzes gesehen hätte. So versäumte er ihre hellbraunen, schlanken Beine, die wie Klingen über den Rasen flitzten, und mich, Tom, Mutter und Sue, wie wir durch die Absperrung rannten und Julie abküßten, als sie ihr drittes Rennen gewann. Abends blieb sie oft zu Hause und wusch sich die Haare, oder bügelte den marineblauen Faltenrock ihrer Schuluniform. Sie gehörte zu der Handvoll verwegener Mädchen an der Schule, die gestärkte weiße Petticoats unter dem Rock trugen, damit sie sich bauschten und hochwirbelten, wenn sie sich auf den Absätzen drehten. Sie trug Strümpfe und schwarze Schlüpf er, was streng
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