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Der Wunsch des Re

Der Wunsch des Re

Titel: Der Wunsch des Re
Autoren: Anke Dietrich
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sodass es schon beinahe ihren Augen wehtat, wenn sie den Blick zu lange auf ihm ruhen ließ. Überall an den längs laufenden Wänden waren regalartige Nischen in den Felsen eingelassen, in denen Tausende von in Lederhülsen steckenden Schriftrollen gelagert waren. In der Mitte des Saals standen Tische und Stühle wie in einer gigantischen Bibliothek. Die dem Eingang gegenüberliegende Wand war mit Darstellungen der wichtigsten Götter geschmückt, die ihr Wissen und ihre Kultur nach Kemi gebracht hatten. Die Bilder erstrahlten in den typischen Farben weiß, gelb, rot, blau, grün und schwarz, wobei ein Überzug aus Gold für die Farbe Gelb stand und Silber für die Farbe Weiß. Einlegearbeiten aus Lapislazuli und Türkis, Karneol und Jaspis, Obsidian, Glasfluss und Fayence versinnbildlichten die anderen Töne.
    Satra war schlicht überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bot, und konnte sich nur mit Mühe von diesem Kunstwerk lösen, das alles, was sie bisher gesehen hatte, sowohl an Vollkommenheit als auch an Wert übertraf.
    Sie riss ihren Blick los und betrachtete die gegenüberliegende Wand, durch die sie in die Halle getreten waren, und erschrak.
    Die Oberfläche war unbearbeitet und schwarz.
    Verwirrt schaute sie zu den Bildern mit den Göttern, die so wunderschön zu betrachten waren, und dann wieder auf die dunkle, Unheil verkündende Wand am anderen Ende des Saals.
    Fragend wanderte ihr Blick zu Amunhotep, der, wie Ramses und die beiden Hohepriester, wortlos ihre Verwandlung von der demütigen Leibeigenen zu einer interessierten Betrachterin beobachtet hatte.
    »Was siehst du?«, fragte der Pharao.
    Unfähig zu sprechen, stand Satra da. Ihr Blick wanderte erneut von der einen Querwand zur anderen. Dann räusperte sie sich, um den Kloß in ihrem Hals zu verdrängen. »Ich weiß nicht, Majestät.«
    Einen kurzen Moment herrschte Schweigen, bis wieder Ramses’ Stimme zu vernehmen war. »Dann sei es so. Ich habe mich bei meiner Wahl getäuscht.« Er drehte sich um und schritt auf den Ausgang der Halle zu.
    »Bitte, Majestät, bei welcher Wahl?« Satra klang kläglich und verzweifelt zugleich. War das etwa ein Test gewesen?
    Erneut schaute sie zu den Bildern und betrachtete sie.
    Da war der Große Gott Thot, der den Menschen die Schrift und den Kalender gebracht hatte.
    Ptah, der als der Erschaffer der Welt angesehen wurde, da er durch den Bau von Kanälen und Dämmen das Land trockengelegt und den Menschen das Handwerk gelehrt hatte. Man sagte über ihn, dass alles, was sein Herz erdacht hatte, durch seine Zunge zum Ausdruck gebracht worden sei und er somit allein durch die Macht seiner Worte die Welt erschaffen habe.
    Und da stand der Große Gott Osiris, dem sie ewige Treue geschworen hatte, in seinen eng anliegenden Mumienbinden aus purem Silber mit der Atef-Krone auf dem Haupt und den Zeichen seiner Königswürde in den Händen. Sein Gesicht und seine Hände waren aus grünem Malachit und symbolisierten die Auferstehung. Zusammen mit seiner Gemahlin Isis war er diejenige Gottheit, die den Menschen der Beiden Länder die Techniken einer Hochkultur gebracht hatte.
    Es gab noch Seth, der sich den Thron der Lebenden durch Brudermord aneignet hatte, und seinen Neffen Horus, der seinen Vater Osiris rächte.
    Sie erblickte das göttliche Paar Schu und Tefnut. Schu bildete den Raum zwischen seiner Tochter Nut, dem Himmel, und seinem Sohn Geb, der Erde. Er hatte somit die Voraussetzung geschaffen, dass sich die Strahlen seines göttlichen Vaters Atum ausbreiten konnten, um den Raum zwischen Erde und Himmel zu erhellen. Jeder konnte fortan sehen, was Atum vollbracht hatte.
    Und da war der Große Gott Atum, er, der aus sich selbst hervorgegangen war, als sich die Welt noch im Chaos befand und außer Nun, dem Urozean, nur Leere und Nichts existiert hatten. Er war zum Anbeginn allen Lebens dem Nichts entstiegen, doch aus Atum war Re geworden, als er sich angeschickt hatte, über das zu herrschen, was er erschaffen hatte.
    Es fiel Satra mit einem Mal wie Schuppen von den Augen. Es waren die Urgötter, die hier versammelt waren!
    Nachdenklich drehte sie sich um und betrachtete die dunkle, unebene Wand, und ihr wurde klar, dass das Nun war, der Urozean aus grauer Vorzeit, als es außer ihm nichts weiter gegeben hatte als Chaos und Leere.
    Sie verstand jetzt, was die Erbauer dieses Saals beabsichtigt hatten. Jeder Besucher sollte beim Betreten dieser Halle des Wissens daran erinnert werden, wem die Bewohner Kemis ihre
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