Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Autoren: Tom Pollock
Vom Netzwerk:
rechtmäßig je hätte sein dürfen. Und auf der Jagd nach dir .« Ich kann die Anstrengung hören, mit der er seine geliehenen Stimmbänder zur Ruhe zwingt. »Filius«, sagt Glas, »es tut sich da eine hässliche Möglichkeit auf, der du dich stellen musst.« Er sinkt in sich zusammen, bis seine Schalen auf einer Höhe mit meinen Augen sind. »Was ist, wenn dieser Geist nicht einfach ausgebrochen ist? Was, wenn er freigelassen wurde – ?«
    Die Frage hängt halb gestellt in der Luft. Im Stillen denke ich sie zu Ende: Was, wenn er freigelassen wurde – von Reach?
    Vom gegenüberliegenden Ufer weht das Donnern und Klirren der Baustellen in St Paul’s herüber. Seine Kräne greifen nach der Kathedrale, als wäre sie eine Art Hoheitszeichen.
    Reach : der Krankönig. Der größte Feind meiner Mutter. Seine Klauen sind Teil meiner Albträume, seit ich denken kann.
    Er könnte es. Mir dämmert jetzt, so wie es Glas gedämmert haben muss, dass Reach ein Experte ist in Sachen Elektrizität. Seine Kräne und Bagger, seine pneumatischen Waffen, sie alle werden damit angetrieben – also könnte er einen Weg gefunden haben, diese Energie in einen Geist zu transferieren, um ihn rasend und brennend auf meine Fährte zu hetzen – mir einen unwiderstehlichen Köder zu liefern.
    »Was, wenn’s am Ende nun doch passiert, Filius?«, raunt Gossenglas, halb zu sich selbst. »Was, wenn Reach kommt, um dich zu holen?«
    Ich packe meinen Speer so fest, dass es sich anfühlt, als wollte die Haut über meinen Knöcheln jeden Augenblick aufplatzen.
    »Wir müssen dich nach Hause schaffen – sofort «, sagt Glas. Er dreht jetzt auf seinem Rad Runde um Runde, immer im Kreis, mit einem Mal voller Hektik. »Ich will, dass du zur Deponie zurückkehrst, wo es sicher ist, bis ich rausgefunden hab, was vor sich geht. Falls wirklich Reach dahintersteckt, wird er nicht bei einem Gleisgeist haltmachen. Bald werden Wölfe auftauchen und – Herrin, steh uns bei«, murmelt er inbrünstig, » Draht .« Er rollt hinüber zum Rand der Brücke, zerrt mich am Arm hinter sich her, und ich muss meine Füße tief in den Sand stemmen, um mich aus seinem Griff zu winden.
    Was, wenn Reach kommt, um dich zu holen?
    … Reach kommt …
    Das Mantra schwirrt wieder und wieder durch meinen Kopf, macht mich schwindlig, ergibt aber keinen Sinn: Warum jetzt ? Ich lebe hier seit sechzehn Jahren ohne den Schutz meiner Mutter. Worauf also hat er gewartet?
    Doch je länger ich darüber nachdenke, umso erschreckend viel einfacher wird es, daran zu glauben. In sämtlichen Märchen, die man mir je erzählt hat, ist Reach immer das Monster gewesen. Meine Mutter hat ihn gehasst, Glas hasst ihn, und ich hasse ihn ebenso. Ich spüre, wie dieser Hass mein Herz umkrampft.
    Reach kommt … und im tiefsten Innern habe ich immer gewusst, dass es irgendwann so weit wäre.
    »Filius?« Glas winkt ungeduldig. »Wir müssen los.«
    Ich richte mich auf, eine neue Welle aus Schmerz durchzuckt meine Brandwunden. Ich schüttle den Kopf.
    Glas hebt seine aus Staub gezogenen Augenbrauen. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um stur zu sein, Filius. Falls du’s vergessen hast, dieser Geist ist noch immer da draußen. Er hätte dich letzte Nacht fast getötet.«
    »Dann kannst du dir ja vorstellen, was er mit dem Rest der Stadt anstellen wird«, sage ich bedächtig. Ich sehe die rußschwarze Leiche des Jungen von letzter Nacht wieder vor mir, zur Unzahl vervielfältigt: eine für jeden Rinnstein. Dieser unbegreiflich mächtige Geist agiert wild und wahllos, und er ist frei .
    Was, wenn Reach kommt, um dich zu holen?
    Der Gedanke ist zu groß; ich kann ihn nicht fassen. Doch wenn ich zulasse, dass die Furcht mich lähmt, dann werde heute Nacht ich derjenige sein, der verkohlt am Straßenrand liegt. Reach ist immer noch ein »Was, wenn«, der Geist ist Gewissheit: die unmittelbare Bedrohung. Danach greife ich, beinahe dankbar. Darauf kann ich mich konzentrieren.
    »Ich muss die Jagd zu Ende bringen.«

Kapitel 4
    Mr Krafte stand vor der Klasse und faselte irgendwas von der Lady of Shalott, aber Beth hörte gar nicht zu. Sie kritzelte vor sich hin, ließ eine aufgepunkte Kriegerprinzessin aus dem Bleistift fließen, die mit ihrer Bazooka einen Spiegel in tausend Stücke ballerte. Durchs Fenster konnte sie draußen die Plane sehen, mit der die Lehrer ihr Werk von letzter Nacht abgedeckt hatten. Das Porträt war noch zu sehen gewesen, als Pen und sie angekommen waren, andere Schüler hatten sich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher