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Der Wissenschaftswahn

Der Wissenschaftswahn

Titel: Der Wissenschaftswahn
Autoren: Rupert Sheldrake
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tieferen oder höheren Sinn hat. Die Vertreter solcher Überzeugungen stützen sich auf den festen Glauben, dass wissenschaftliche Entdeckungen ihre Überzeugung schließlich rechtfertigen werden. Der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper gab dieser Haltung den Namen »Gutscheinmaterialismus«, weil man ja im Effekt etwas bescheinigt, was noch gar nicht entdeckt ist. [7] Trotz aller wissenschaftlich-technischen Errungenschaften steht der Materialismus heute vor einer Glaubwürdigkeitskrise, die noch im vorigen Jahrhundert undenkbar gewesen wäre.
    Als ich 1963 an der Cambridge University Biochemie studierte, wurde ich zusammen mit einigen anderen Kursteilnehmern zu privaten Kolloquien mit Francis Crick und Sydney Brenner eingeladen, die in Brenners Räumen am Kings College stattfinden sollten. Da hatten die beiden Wissenschaftler gerade zusammen mit anderen Wissenschaftlern den genetischen Code »geknackt«. Beide waren leidenschaftliche Vertreter des Materialismus und Crick darüber hinaus militanter Atheist. Sie ließen uns wissen, es gebe in der Biologie noch zwei größere ungeklärte Probleme, nämlich Entwicklung und Bewusstsein. Die seien noch nicht gelöst, weil die Leute, die daran arbeiteten, keine Molekularbiologen und nicht sehr helle seien. Crick und Brenner würden die Lösungen innerhalb der nächsten zehn, höchstens zwanzig Jahre finden. Brenner würde sich die Entwicklung, Crick das Bewusstsein vornehmen. Wir waren eingeladen, uns ihnen anzuschließen.
    Sie taten ihr Bestes. Brenner erhielt 2002 für seine Arbeit zur Entwicklung eines winzigen Wurms,
Caenorhabdytis elegans,
den Nobelpreis. Crick starb 2004 am Tag nach der Korrektur seiner letzten Arbeit über das Gehirn. Bei seiner Beerdigung sagte sein Sohn Michael, Crick sei nicht auf Ruhm, Reichtum oder Popularität aus gewesen, sondern habe »den letzten Nagel in den Sarg des Vitalismus schlagen« wollen. (Der Vitalismus lehrt, dass Lebewesen wirklich lebendig und niemals erschöpfend mit den Mitteln der Physik und Chemie zu erklären sind.)
    Crick und Brenner scheiterten. Die Probleme der Entwicklung und des Bewusstseins sind nach wie vor ungelöst. Viele weitere Einzelheiten sind entdeckt worden, Dutzende Genome wurden sequenziert, und die Verfahren der Gehirntomographie werden immer noch präziser. Nach wie vor jedoch steht der Beweis aus, dass Leben und Geist allein auf der Basis von Physik und Chemie erklärbar seien (siehe hierzu die Kapitel 1 , 4 und 8 ).
    Der Materialismus geht von der Grundannahme aus, dass es nur Materie und sonst nichts gibt. Folglich kann Bewusstsein nur Gehirnaktivität sein. Bewusstsein ist ein Schatten, ein »Epiphänomen« ohne eigene Aktivität oder eben eine von vielen Möglichkeiten, über Gehirnaktivität zu sprechen. Unter heutigen Neurowissenschaftlern und Bewusstseinsforschern gibt es jedoch keinen Konsens, was die Natur des Geistes angeht. Führende Zeitschriften wie
Behavioural and Brain Sciences
und das
Journal of Consciousness Studies
veröffentlichen immer wieder Artikel, in denen gravierende Probleme des materialistischen Weltbildes aufgezeigt werden. Der Philosoph David Chalmers hat das bloße Vorhandensein der subjektiven Erfahrung als »das harte Problem« bezeichnet. Hart ist daran, dass es für die subjektive Erfahrung keine mechanistische Erklärung gibt. Selbst wenn wir durchschauen, wie Auge und Gehirn auf rotes Licht reagieren, haben wir damit noch nicht das
Erlebnis
der »Röte« erklärt.
    In Biologie und Psychologie erlebt die Glaubwürdigkeit des Materialismus zurzeit einen Einbruch. Kann die Physik da in die Bresche springen? Manche Materialisten nennen sich lieber Physikalisten, damit man gleich weiß, dass sie sich auf die moderne Physik und nicht auf einen längst veralteten Materiebegriff stützen. Aber die Glaubwürdigkeit des Physikalismus ist von der Physik selbst zurückgestuft worden, und das kam so:
    Erstens heben manche Physiker hervor, dass die Quantenmechanik nur zu formulieren ist, wenn man auch das Bewusstsein des Beobachters berücksichtigt. Geist, sagen sie, lässt sich nicht auf Physik reduzieren, denn schließlich setzt die Physik ja den Geist des Physikers voraus. [8]
    Zweitens führen die ehrgeizigsten Theorien der physischen Realität, die String- und M-Theorien mit ihren zehn beziehungsweise elf Dimensionen, die Naturwissenschaft auf völlig neues Territorium. Seltsamerweise, so Stephen Hawking in seinem 2010 erschienenen Buch
The Grand Design
(Der große Entwurf)
,
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