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Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)

Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)

Titel: Der Winter tut den Fischen gut (German Edition)
Autoren: Anna Weidenholzer
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Herr Willert, die Kundinnen dürfen dabei nicht auf ihre Oberarme angesprochen werden. Drücken Sie Begeisterung aus, wenn Ihnen etwas an der Kundin gefällt. Weisen Sie auf andere Kleidungsstücke hin, sollte eines nicht geeignet sein. Sollte Ihnen an der Kundin etwas nicht gefallen, was der Kundin gefällt, schweigen Sie. Maria sieht im Spiegel ihre Augen, die an Vormittagen trüber sind als an Nachmittagen. Mit schwarzem Augenkonturenstift hat Maria sie umrandet, ihre grünen Augen, die nach dem Aufstehen eine Weile brauchen, bis sie klar werden, die Wimpern getuscht. Mit dem Zeigefinger wischt sie unter dem linken Auge eine Wimper weg, sie fährt mit der Hand durch ihre Haare, sie richtet sich auf.
    Der Rahmen des Spiegels ist breit, er bietet genügend Platz für die Zettel. Maria befestigt sie mit Klebebandstreifen, die sie zuvor gegen ihren Handrücken drückt, damit sie nicht so stark haften und die Goldfarbe ablösen. Die Sätze sind in Großbuchstaben geschrieben, sonst müsste Maria zu nahe an den Spiegel heran, wenn sie lesen möchte, was auf den Zetteln steht. An diesem Novemberdienstagmorgen betrachtet sich Maria kurzärmelig vor dem Spiegel und bemerkt, dass sich auf ihren Unterarmen die Haare aufstellen. So nicht, sagt sie und geht hinüber ins Schlafzimmer, um eine Strickjacke zu holen. Weiß passt zu Blau und Blau nicht zu Schwarz. Achten Sie auf die Farben, sagte Herr Willert. Herr Willert trug Grau und manchmal auch Dunkelblau; gedeckte Farben, wie er sagte, Männer und Frauen wirken in gedeckten Farben seriös, Frauen auch in Pastell. Im Schlafzimmer streift Maria mit der Hand über das Leintuch, schüttelt den Polster auf, legt die Bettdecke gerade hin. Auf Walters Seite zieht sie an den Enden der Decke, damit die Falten verschwinden. Auf Walters Seite wird die Bettwäsche nur alle vier Wochen gewechselt, auf Marias Seite alle zwei. In geraden Monaten holt Maria die grünen Überzüge aus dem Schrank hervor, in ungeraden die gelben. Weil bei Walter nur alle vier Wochen gewechselt wird, bleibt immer eine Reservegarnitur, für Notfälle und für Gäste, würde Maria sagen, würde sie mit jemandem über ihre Bettwäsche sprechen. An diesem Dienstagmorgen nimmt sie eine weiße Strickweste aus dem Kleiderschrank und versperrt ihn, nachdem sie ihn geschlossen hat. Den Schlüssel lässt sie stecken, sie zieht ihn niemals ab.
    Vom Schlafzimmer zum Spiegel sind es wenige Schritte, auf der Vorzimmerkommode liegen die Briefe, ungeöffnet, gesammelt von Dienstag bis Freitag, Montag ist keine Post gekommen. Der Tierschutzverein hat geschrieben, der Mobilfunkanbieter, der Vorteilsclub, das Arbeitsmarktservice, der Verein zur Hilfe für an Lepra erkrankte Kinder in Ostindien, eine Boutique, bei der sich Maria beworben hat. Maria hat die Briefe nach Themen geordnet: Tiere, Rechnungen, Werbungen, Möglichkeiten, Pflichten. Sie zerreißt die Rechnungen und versteckt den Brief vom Arbeitsmarktservice in der ersten Schublade unter dem Telefonbuch. Danach beißt sie auf ihre Unterlippe, atmet tief ein und aus. Sie geht hinüber zum Spiegel und setzt ein Lächeln auf. Sie liest von links nach rechts:
Ich kenne mich mit der Materie aus. Ich habe ein schönes Foto, auf dem du Tauben fütterst. Zumindest habe ich das erreicht, was ich erreichen wollte
. Als es klingelt, erschrickt sie, sie dreht sich zur Seite und greift zum Telefon, das auf der Vorzimmerkommode zwischen den Briefen liegt, sie hält es zum Ohr, sagt: Beerenberger. Eine Frau ist am anderen Ende der Leitung, sie nennt ihren Namen, den Maria gleich wieder vergessen haben wird, sie sagt: Ich rufe im Auftrag Ihrer Bankfiliale an. Es ist uns wichtig, mit unseren Kunden guten Kontakt zu halten, deshalb möchte ich Sie fragen, wie Sie mit unseren Dienstleistungen zufrieden sind, Frau Beerenberger. Ich bin zufrieden, sagt Maria, es fehlt mir an nichts, bitte entschuldigen Sie, ich habe keine Zeit, ich bin beschäftigt. Darf ich Sie zu einem späteren Zeitpunkt anrufen, fragt die Frau, Ihre Meinung ist uns wichtig, Frau Beerenberger. Und darf ich Sie noch kurz fragen, ob sich Ihre Adresse geändert hat. Maria wartet, bis die Anruferin eine Pause macht. Dann legt sie auf. Es hat sich ohnehin nichts geändert, denkt sie. Sollte sie noch einmal anrufen, werde ich nicht abheben, und sollte ich versehentlich abheben, werde ich sagen: Entschuldigen Sie, der Empfang war weg, ich lebe in einem Funkloch. Vor fünfundzwanzig Jahren ist Maria mit Walter in die Wohnung
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