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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
Autoren: Bernhard Schlink
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rannte die Treppe hinunter und aus dem Haus.
    Ich ging langsam. Bahnhofstraße, Häusserstraße, Blumenstraße – seit Jahren war es mein Schulweg. Ich kannte jedes Haus, jeden Garten und jeden Zaun, den, der jedes Jahr frisch gestrichen wurde, den, dessen Holz so grau und morsch geworden war, daß ich es mit der Hand zerdrücken konnte, die eisernen Zäune, an deren Stäben ich als Kind mit dem Stock klingend entlanggerannt bin, und die hohe Backsteinmauer, hinter der ich Wunderbares und Schreckliches phantasiert hatte, bis ich hochklettern konnte und die langweiligen Reihen verwahrloster Blumen-, Beeren- und Gemüsebeete sah. Ich kannte das Kopfsteinpflaster und den Teerbelag auf der Straße und die Wechsel zwischen Platten, wellenförmig gepflasterten Basaltklötzchen, Teer und Schotter auf dem Gehweg.
    Alles war mir vertraut. Als mein Herz nicht mehr schneller klopfte und mein Gesicht nicht mehr brannte, war die Begegnung zwischen Küche und Flur weit weg. Ich ärgerte mich. Ich war wie ein Kind weggelaufen, statt so souverän zu reagieren, wie ich es von mir erwartete. Ich war nicht mehr neun, ich war fünfzehn. Allerdings blieb mir ein Rätsel, was die souveräne Reaktion hätte sein sollen.
    Das andere Rätsel war die Begegnung zwischen Küche und Flur selbst. Warum hatte ich die Augen nicht von ihr lassen können? Sie hatte einen sehr kräftigen und sehr weiblichen Körper, üppiger als die Mädchen, die mir gefielen und denen ich nachschaute. Ich war sicher, daß sie mir nicht aufgefallen wäre, wenn ich sie im Schwimmbad gesehen hätte. Sie hatte sich auch nicht nackter gezeigt, als ich Mädchen und Frauen im Schwimmbad schon gesehen hatte. Überdies war sie viel älter als die Mädchen, von denen ich träumte. Über dreißig? Man schätzt das Alter schwer, das man noch nicht hinter sich hat oder auf sich zukommen sieht.
    Jahre später kam ich drauf, daß ich nicht einfach um ihrer Gestalt, sondern um ihrer Haltungen und Bewegungen willen die Augen nicht von ihr hatte lassen können. Ich bat meine Freundinnen, Strümpfe anzuziehen, aber ich mochte meine Bitte nicht erklären, das Rätsel der Begegnung zwischen Küche und Flur nicht erzählen. So kam meine Bitte als Wunsch nach Strapsen und Spitzen und erotischer Extravaganz an, und wenn sie erfüllt wurde, geschah es in koketter Pose. Das war es nicht, wovon ich meine Augen nicht hatte lassen können. Sie hatte nicht posiert, nicht kokettiert. Ich erinnere mich auch nicht, daß sie es sonst getan hätte. Ich erinnere mich, daß ihr Körper, ihre Haltungen und Bewegungen manchmal schwerfällig wirkten. Nicht daß sie so schwer gewesen wäre. Vielmehr schien sie sich in das Innere ihres Körpers zurückgezogen, diesen sich selbst und seinem eigenen, von keinem Befehl des Kopfs gestörten ruhigen Rhythmus überlassen und die äußere Welt vergessen zu haben. Dieselbe Weltvergessenheit lag in den Haltungen und Bewegungen, mit denen sie die Strümpfe anzog. Aber hier war sie nicht schwerfällig, sondern fließend, anmutig, verführerisch – Verführung, die nicht Busen und Po und Bein ist, sondern die Einladung, im Inneren des Körpers die Welt zu vergessen.
    Das wußte ich damals nicht – wenn ich es denn jetzt weiß und mir nicht nur zusammenreime. Aber indem ich damals darüber nachdachte, was mich so erregt hatte, kehrte die Erregung wieder. Um das Rätsel zu lösen, rief ich mir die Begegnung in Erinnerung, und die Distanz, die ich mir geschaffen hatte, indem ich sie zum Rätsel gemacht hatte, löste sich auf. Ich sah alles wieder vor mir und konnte wieder die Augen nicht davon lassen.

5
     
    Eine Woche später stand ich wieder bei ihr vor der Tür.
    Eine Woche lang hatte ich versucht, nicht an sie zu denken. Aber da war nichts, was mich ausgefüllt und abgelenkt hätte; der Arzt ließ noch nicht zu, daß ich die Schule besuchte, der Bücher war ich nach Monaten des Lesens überdrüssig, und die Freunde schauten zwar vorbei, aber ich war schon so lange krank, daß ihre Besuche die Brücke zwischen ihrem und meinem Alltag nicht mehr schlagen konnten und immer kürzer wurden. Ich sollte spazierengehen, jeden Tag ein bißchen weiter, ohne mich anzustrengen. Die Anstrengung hätte ich gebraucht.
    Was sind die Zeiten der Krankheit in Kindheit und Jugend doch für verwunschene Zeiten! Die Außenwelt, die Freizeitwelt in Hof oder Garten oder auf der Straße dringt nur mit gedämpften Geräuschen ins Krankenzimmer. Drinnen wuchert die Welt der Geschichten und
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