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Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)

Titel: Der Vorleser (Diogenes Taschenbuch, 22953) (German Edition)
Autoren: Bernhard Schlink
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sauber und gab immer den gleichen Putzmittelgeruch, manchmal gemischt mit dem Geruch nach Kohl oder Bohnen, nach Gebratenem oder nach kochender Wäsche. Von den anderen Bewohnern des Hauses lernte ich nie mehr kennen als diese Gerüche, die Fußabtritte vor den Wohnungstüren und die Namensschilder unter den Klingelknöpfen. Ich erinnere mich nicht, im Treppenhaus jemals einem anderen Bewohner begegnet zu sein.
    Ich erinnere mich auch nicht mehr, wie ich Frau Schmitz begrüßt habe. Vermutlich hatte ich mir zwei, drei Sätze über meine Krankheit, ihre Hilfe und meinen Dank zurechtgelegt und habe sie aufgesagt. Sie hat mich in die Küche geführt.
    Die Küche war der größte Raum der Wohnung. In ihr standen Herd und Spüle, Badewanne und Badeofen, ein Tisch und zwei Stühle, ein Küchenschrank, ein Kleiderschrank und eine Couch. Über die Couch war eine rote Samtdecke gebreitet. Die Küche hatte kein Fenster. Licht fiel durch die Scheiben der Tür, die auf den Balkon führte. Nicht viel Licht – hell war die Küche nur, wenn die Tür offenstand. Dann hörte man aus der Schreinerei im Hof das Kreischen der Säge und roch das Holz.
    Zur Wohnung gehörte noch ein kleines und enges Wohnzimmer mit Anrichte, Tisch, vier Stühlen, Ohrensessel und einem Ofen. Dieses Zimmer wurde im Winter fast nie beheizt und auch im Sommer fast nie benutzt. Das Fenster ging zur Bahnhofstraße und der Blick auf das Gelände des ehemaligen Bahnhofs, das um- und umgewühlt wurde und auf dem hier und da schon die Fundamente neuer Gerichts- und Behördengebäude gelegt waren. Schließlich gehörte zur Wohnung noch ein fensterloses Klo. Wenn es im Klo stank, stank es auch im Gang.
    Ich erinnere mich auch nicht mehr, was wir in der Küche geredet haben. Frau Schmitz bügelte; sie hatte eine Wolldecke und ein Leintuch über den Tisch gebreitet und nahm ein Wäschestück nach dem anderen aus dem Korb, bügelte es, faltete es und legte es auf den einen der beiden Stühle. Auf dem anderen saß ich. Sie bügelte auch ihre Unterwäsche, und ich wollte nicht hinschauen, konnte aber auch nicht wegschauen. Sie trug eine ärmellose Kittelschürze, blau mit kleinen, blassen, roten Blüten. Sie hatte ihr schulterlanges, aschblondes Haar im Nacken mit einer Spange gefaßt. Ihre nackten Arme waren blaß. Die Handgriffe, mit denen sie das Bügeleisen aufnahm, führte und absetzte und dann die Wäschestücke zusammen- und weglegte, waren langsam und konzentriert, und ebenso langsam und konzentriert bewegte sie sich, bückte sich und richtete sich auf. Über ihr damaliges Gesicht haben sich in meiner Erinnerung ihre späteren Gesichter gelegt. Wenn ich sie vor meine Augen rufe, wie sie damals war, dann stellt sie sich ohne Gesicht ein. Ich muß es rekonstruieren. Hohe Stirn, hohe Backenknochen, blaßblaue Augen, volle, ohne Einbuchtung gleichmäßig geschwungene Lippen, kräftiges Kinn. Ein großflächiges, herbes, frauliches Gesicht. Ich weiß, daß ich es schön fand. Aber ich sehe seine Schönheit nicht vor mir.

4
     
    »Wart noch«, sagte sie, als ich aufstand und gehen wollte, »ich muß auch los und komm ein Stück mit.«
    Ich wartete im Flur. Sie zog sich in der Küche um. Die Tür stand einen Spalt auf. Sie zog die Kittelschürze aus und stand in hellgrünem Unterkleid. Über der Lehne des Stuhls hingen zwei Strümpfe. Sie nahm einen und raffte ihn mit wechselnd greifenden Händen zu einer Rolle. Sie balancierte auf einem Bein, stützte auf dessen Knie die Ferse des anderen Beins, beugte sich vor, führte den gerollten Strumpf über die Fußspitze, setzte die Fußspitze auf den Stuhl, streifte den Strumpf über Wade, Knie und Schenkel, neigte sich zur Seite und befestigte den Strumpf an den Strumpfbändern. Sie richtete sich auf, nahm den Fuß vom Stuhl und griff nach dem anderen Strumpf.
    Ich konnte die Augen nicht von ihr lassen. Von ihrem Nacken und von ihren Schultern, von ihren Brüsten, die das Unterkleid mehr umhüllte als verbarg, von ihrem Po, an dem das Unterkleid spannte, als sie den Fuß auf das Knie stützte und auf den Stuhl setzte, von ihrem Bein, zuerst nackt und blaß und dann im Strumpf seidig schimmernd.
    Sie spürte meinen Blick. Sie hielt im Griff nach dem anderen Strumpf inne, wandte sich zur Tür und sah mir in die Augen. Ich weiß nicht, wie sie schaute – verwundert, fragend, wissend, tadelnd. Ich wurde rot. Einen kurzen Augenblick stand ich mit brennendem Gesicht. Dann hielt ich es nicht mehr aus, stürzte aus der Wohnung,
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