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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition)
Autoren: Clare Clark
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Angelhaken entgegenschwammen und ihnen ihr Maul darboten. Doch William wusste sehr gut, dass gerade dieser Flussabschnitt schon seit Jahrhunderten nur noch eine Kloake war. Seit der Zeit Königin Elizabeths wurde er von Schlachthäusern und Gerbereien gesäumt, die die Fische vergifteten und das Wasser rot färbten, so dass kein Geringerer als Ben Johnson geschrieben hatte, sein Gestank übertreffe selbst die vier Ströme des Hades. Vielleicht hatten die Ratten die grausige Vergangenheit des Flusses gespürt. Die Geschichte hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, sie waren irgendwo anders hin geflüchtet, so dass William nun allein die Finsternis ertragen musste. Unvergossene Tränen, hart wie Stein, brannten ihm in den Augen.
    Schreie bildeten sich unter seinem Zwerchfell, drückten nach oben und drängten mit einer solchen Gewalt aus seiner Brust, als wollten sie ihm die Rippen brechen. William zitterten die Hände. Er befestigte die Laterne an seiner Lederschürze und tastete suchend im Werkzeugbeutel, den er an der Hüfte trug. Seine Finger waren kalt und steif, und als er das Messer herauszog, wäre es ihm fast entglitten. Während er es mit beiden Händen am Heft gepackt hielt, fluchte er auf sich selbst, in einem Strom leiser, eindringlicher Verwünschungen, so widerwärtig wie das Wasser, in dem er stand. Es war das erste Mal, dass er an diesem Tag etwas sagte, und seine ungelenke Stimme knarrte bei jedem Wort. Er räusperte sich. Immer leichter und schneller stieß er jetzt Flüche hervor, bis sie das Rauschen des Wassers übertönten. Ihr karges Echo beruhigte ihn ein wenig.
    Wieder spürte William das aufwühlende Drängen im Bauch, und wie immer drohte das brennende Verlangen anzuschwellen und ihn mit seiner unersättlichen Hitze zu versengen. Im gefrorenen Morast der Nächte, an die William keine Erinnerung zuließ, waren die Männer unruhig hin und her gelaufen und hatten laut über ihre unbefriedigten Begierden geklagt. Nichts, so schien es – weder der nagende Hunger noch die erbärmliche Kälte und nicht einmal die blanken, lähmenden Schrecken der Nachtwache –, konnte diese urwüchsigen Londoner Burschen von ihren sinnlichen Gelüsten ablenken. Die Frauen trieben sie noch in den Wahnsinn, hatten die Soldaten immer wieder gejammert und sich dabei unter ihre verlausten Uniformen gefasst, wie von einem schrecklichen Juckreiz befallen. Nacht für Nacht hatten sie Stunden damit verbracht, SIE , das fantastische Inbild all ihrer wilden Träume und dürftigen Erfahrungen, heraufzubeschwören. SIE , die ihre mit Federn gefüllte Matratze auf dem durchfurchten Schlamm des Schützengrabens ausrollte und die weißen Schenkel spreizte. Anfangs hatte William dieses wüste Gerede als Beleidigung von Sitte und Anstand und vor allem als Kränkung Pollys angesehen, aber später merkte er, wie sehr es ihn tröstete. Immerhin war es etwas Beständiges.
    Erinnerungen an die ersten Nächte kamen ihm in den Sinn, da er und Polly endlich wieder beieinander lagen, und an die vielen Nächte danach, wenn er wach lag und ihrem leisen Schnarchen lauschte. Vor dem Krieg konnte er kaum ihre Stimme hören, ohne sie sogleich berühren zu wollen, aber seit seiner Rückkehr aus Skutari war er unfähig, mehr für sie aufzubringen als eine vage, ziellose Zuneigung. Mit ihren sanften Händen berührte sie sein Gesicht, küsste ihn auf die Mundwinkel, ließ die Zunge über seinen Hals, die Brustwarzen und den Bauch huschen, aber er spürte nichts. Sein Penis hing schlaff wie ein ausrangierter Socken zwischen den Beinen. Er sah ihre Finger, die Lippen, aber sie waren für ihn nur Bilder, beliebige Illustrationen, die man aus einem Buch gerissen hatte. Wenn Polly mit ihm sprach und dabei seinen Kopf so in die Hände nahm, dass er gar nicht anders konnte, als in ihre fröhlich zwinkernden Augen zu blicken, musste er sich erst einmal in die Gegenwart zurückrufen, so weit war er bereits von dem Ort ihres Beisammenseins weggedriftet. Worte verloren ihren Sinn. Farben verblassten oder verschwammen ineinander. Es fiel ihm schwer, alltägliche Gegenstände wiederzuerkennen. Manchmal wusste er nicht mehr genau, wer er war. An anderen Tagen wiederum war sich William sicher, dass er im Begriff stand zu verschwinden, auseinander zu fallen und sich aufzulösen, bis er nur mehr trockener Sand war, der durch die Ritzen zwischen den Bodendielen sickerte.
    Außer wenn das Verlangen kam. Ihn mit seiner Flammenzunge leckte und von
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