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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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gemacht; schon als Student zeichnete er sich literarisch aus und schrieb eine ebenso witzige wie glänzende Feder. Du siehst, er war ein tüchtiger und gründlicher Wissenschaftler. Um so bedauernswerter ist seine jetzige Wendung ins Modische, wenn ich so sagen darf; denn was er gegenwärtig treibt, ist nun doch zu billig, Schulmedizin hin oder her. Der letzte Artikel erschien in der ‹Lancet› noch im Januar fünfundvierzig, einige Monate bevor er in die Schweiz zurückkehrte. Das ist gewiß ein Beweis, daß unser Verdacht eine rechte Eselei war. Ich schwöre dir, mich nie mehr als Kriminalist zu versuchen. Der Mann auf dem Bild kann nicht Emmenberger sein, oder die Fotografie ist gefälscht.»
    «Das wäre ein Alibi», sagte Bärlach und faltete den Anzeiger zusammen. «Du kannst mir die Zeitschriften dalassen.»
    Als Hungertobel um zehn zur ordentlichen Arztvisite zurückkam, lag der Alte, eifrig in den Zeitschriften lesend, in seinem Bett.
    Ihn scheine auf einmal die Medizin doch zu interessieren, sagte der Arzt verwundert und prüfte Bärlachs Puls.
    Hungertobel habe recht, meinte der Kommissär, die Artikel kämen aus Chile.
    Hungertobel freute sich und war erleichtert. «Siehst du! Und wir sahen Emmenberger schon als Massenmörder.»
    «Man hat heute in dieser Kunst die frappantesten Fortschritte gemacht», antwortete Bärlach trocken. «Die Zeit, mein Freund, die Zeit. Die englischen Zeitschriften brauche ich nicht, aber die schweizerischen Nummern kannst du mir lassen.»
    «Emmenbergers Artikel in der ‹Lancet› sind doch viel bedeutender, Hans!» widersprach Hungertobel, der schon überzeugt war, dem Freund gehe es um die Medizin. «Die mußt du lesen.»
    In der medizinischen Wochenschrift schreibe Emmenberger aber deutsch, entgegnete Bärlach etwas spöttisch.
    «Und?» fragte der Arzt, der nichts begriff.
    «Ich meine, mich beschäftigt sein Stil, Samuel, der Stil eines Arztes, der einst eine gewandte Feder führte und nun reichlich unbeholfen schreibt», sagte der Alte vorsichtig.
    Was denn dabei sei, fragte Hungertobel noch immer ahnungslos, mit der Tabelle über dem Bett beschäftigt.
    «So leicht ist ein Alibi nun doch nicht zu erbringen», sagte der Kommissär.
    «Was willst du damit sagen?» rief der Arzt bestürzt aus. «Du bist den Verdacht immer noch nicht los?»
    Bärlach sah seinem fassungslosen Freund nachdenklich ins Gesicht, in dieses alte, noble, mit Falten überzogene Antlitz eines Arztes, der es in seinem Leben mit seinen Patienten nie leichtgenommen hatte und der doch nichts von den Menschen wußte, und dann sagte er: «Du rauchst doch immer noch deine ‹Little-Rose of Sumatra›, Samuel? Es wäre jetzt schön, wenn du mir eine anbieten würdest. Ich stelle es mir angenehm vor, so eine nach meiner langweiligen Haferschleimsuppe in Brand zu stecken.»

Die Entlassung
    D och bevor es noch zum Mittagessen kam, erhielt der Kranke, der immer wieder den gleichen Artikel Emmenbergers über die Bauchspeicheldrüse las, seinen ersten Besuch seit seiner Operation. Es war der ‹Chef›, der um elf das Krankenzimmer betrat und etwas verlegen am Bett des Alten Platz nahm, ohne den Wintermantel abzulegen, den Hut in der Hand. Bärlach wußte genau, was dieser Besuch bedeuten sollte, und der Chef wußte genau, wie es um den Kommissär stand.
    «Nun, Kommissär», begann Lutz, «wie geht's? Wir mußten ja zeitweilig das Schlimmste befürchten.»
    «Langsam aufwärts», antwortete Bärlach und verschränkte wieder die Hände hinter dem Nacken.
    «Was lesen Sie denn da?» fragte Lutz, der nicht gern aufs eigentliche Thema seines Besuches kam und nach einer Ablenkung suchte: «Ei, Bärlach, sieh da, medizinische Zeitschriften!»
    Der Alte war nicht verlegen: «Das liest sich wie ein Kriminalroman», sagte er. «Man erweitert ein wenig seinen Horizont, wenn man krank ist, und sieht sich nach neuen Gebieten um.»
    Lutz wollte wissen, wie lange denn Bärlach nach Meinung der Ärzte noch das Bett hüten müsse.
    «Zwei Monate», gab der Kommissär zur Antwort, «zwei Monate soll ich noch liegen.»
    Nun mußte der Chef, ob er wollte oder nicht, mit der Sprache heraus. «Die Altersgrenze», brachte er mühsam hervor: «Die Altersgrenze, Kommissär, Sie verstehen, wir kommen wohl nicht mehr darum herum, denke ich, wir haben unsere Gesetze.»
    «Ich verstehe», antwortete der Kranke und verzog nicht einmal das Gesicht.
    «Was sein muß, muß sein», sagte Lutz. «Sie müssen sich schonen, Kommissär, das ist
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