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Der verbotene Schlüssel

Titel: Der verbotene Schlüssel
Autoren: Ralf Isau
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Hinterhofs gefunden. Wie beschrieben wählte sie den rechten Eingang. Als sie im Treppenhaus nach oben stieg, begegnete ihr eine pummelige alte Frau mit Kopftuch und Kittelschürze, die gerade mit großer Gründlichkeit das Podest vor ihrer Wohnungstür fegte. Auf dem goldenen Schild über der Klingel stand: Erna Waczlawiak.
    »Grüß Gott«, sagte Sophia höflich, wie sie es aus ihrer badischen Heimat gewohnt war.
    Die Alte fuhr ruckartig herum, sah erst das Mädchen und dann den Karton an. »Tach. Wohl zu Besuch hier. Oder ziehen Sie gerade ein?«
    »Ja und nein.« Sophia lief einfach weiter. Bestimmt hätte Frau Waczlawiak ihr gerne die Geschichte vom unheimlichen Leichenfund erzählt, aber die Schilderungen von Doktor Sibelius genügten der Enkelin des Verblichenen fürs Erste.
    Als die putzwütige Nachbarin schon eine Weile außer Sicht war, erreichte Sophia die Wohnung von Otto Konrad. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, warum er so rigoros alle Brücken hinter sich abgerissen hatte. Sie rückte den Karton unter dem linken Arm zurecht, damit er ihr beim Aufschließen nicht entglitt. Während sie den Schlüssel in das Sicherheitsschloss steckte und zweimal herumdrehte, überkam sie ein seltsames Gefühl. Wollte sie wirklich das Geheimnis ihres mysteriösen Großvaters ergründen? Manche Dinge blieben besser für immer unentdeckt. Noch konnte sie wieder abschließen und einfach davonlaufen …
    »Ach, was soll’s?«, flüsterte sie und öffnete die Tür.
    Vor ihr lag ein hoher, dunkler Flur. Sie trat ein und knipste das Licht an. Wie schon im Büro von Doktor Sibelius knarrten auch hier die Dielen unter ihren Füßen. Links und rechts gingen mehrere Türen ab. Fast jede freie Stelle dazwischen war von einer Standuhr belegt. An den Wänden hingen verblichene Fotografien. Auf einer erkannte Sophia ihren Vater als Junge von vielleicht zehn Jahren. Der typische Geruch alter Leute stieg ihr in die Nase. Der Geruch deines Opas, dachte sie und stellte ihren Karton auf eine abgeschabte Kommode neben der Hängegarderobe. Auch ihre Jacke und den Rucksack legte sie ab, bevor sie sich an die weitere Erkundung ihrer neuen Immobilie machte.
    Die erste Tür links führte in ein winziges Bad, danach kam die Küche – wahrscheinlich war Ersteres zu Lasten von Letzterem nachträglich eingebaut worden. Neue Heizkörper und Sanitäreinrichtungen deuteten auf eine kürzlich durchgeführte Sanierung hin. An den Wänden der Räume hingen unglaublich viele Uhren. Rechts ging vom Flur das Wohnzimmer ab. Es war, wie Doktor Sibelius schon angedeutet hatte, ein wahres Uhrenmuseum. Hier gab es Wanduhren, Standuhren, Sanduhren, außerdem Taschenuhren, Wecker und Uhren, die man auf Schränke platzierte, wie auch solche, die sich zuklappen und ins Reisegepäck stecken ließen. Die meisten waren alt, einige neuere Modelle strombetrieben. Rein äußerlich befand sich die Sammlung in tadellosem Zustand.
    Doch die Uhren zeigten ausnahmslos die falsche Zeit an.
    Weil etwas – oder jemand? – sie alle um dreizehn Uhr dreizehn angehalten hatte.
    So wie auch Ole Kollins Herz zum Stillstand gekommen war.
    Und das ihrer Eltern.
    Der Kessel auf der blauen Gasflamme pfiff. Sophia hängte einen Beutel Pfefferminztee in die hohe Tasse und goss kochendes Wasser hinein. Vielleicht konnte sie damit die Kopfschmerzen vertreiben, die sie seit zwei Jahren plagten, sobald sie zu intensiv grübelte. Außerdem hatte sie sich irgendwie ablenken müssen. Wenn sie noch länger die stummen Uhren angestarrt hätte, wäre sie vermutlich durchgedreht. Und dann die sonderbaren Parallelen zwischen dem Tod des Großvaters und dem ihrer Eltern! Bei dem Gedanken bekam sie Gänsehaut.
    Als sie mit der dampfenden Tasse in den Flur zurückkehrte, fiel ihr Blick auf den grauen Karton. Sie nickte. Damit konnte sie sich fürs Erste beschäftigen. Weil sie den Teepott nicht abstellen wollte, bückte sie sich, schob umständlich die Kiste auf ihren linken Oberschenkel und klemmte sie sich unter den Arm.
    Die Wohnzimmertür knarrte, als Sophia sie mit dem Fuß aufschob. Die Möblierung des Raumes beschränkte sich auf ein hohes Regal voller Bücher, eine schwarzbraune Anrichte mit Kristallglastürchen – vermutlich aus der Zeit, als das Haus gebaut worden war – und einen Ohrensessel mit einem viereckigen Beistelltisch. Letztere standen zwischen den zwei schmalen Fenstern, die in den Hinterhof hinausblickten.
    Sophia stellte ihre Tasse auf dem kleinen Tisch ab und setzte
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