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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss
Autoren: Laini Taylor
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mehr abgemagert. Ich habe sie gesehen, als es mit ihr bereits zu Ende ging. In ihrem Gesicht wirkten die Augen riesig, und alle Lebenskraft war aus ihr herausgesaugt. Sie starb bei Vollmond und man bestattete sie auf dem Kirchhof, aber schon im nächsten Jahr grub man sie wieder aus, weil über ihr nicht einmal das Gras wachsen wollte. Dadurch wusste man, dass sie eine Verdammte war. Mairenni sah schon fast genauso aus wie das arme Ding vor seinem Tod, und ich wusste, sie würde ebenfalls sterben. Sie war zwar dumm, und doch war sie auch meine Schwester. Ich musste etwas unternehmen.«
    An dieser Stelle betastete Kizzys Großmutter für gewöhnlich ihre Lippen und schauderte bei der Erinnerung daran, wie eine Horde von Kobolden sich ihr zugewandt hatte, wie die Ungeheueraugen dieser Gestalten in der Dunkelheit gefunkelt hatten, während sie sich auf sie gestürzt und sie zu Boden gedrückt, Weintrauben und Feigen auf ihren zusammengepressten Lippen zermatscht hatten.
    »Die Kobolde können sich deine Seele nicht einfach holen , Sonnenscheinchen«, hatte ihre Großmutter mit ihrem starken Akzent erzählt. »Du musst sie ihnen schenken . Das ist eine Abmachung zwischen Gott und dem Alten Pferdefuß. Älter als das Ei! Eine Seele, die mit Gewalt genommen wird, verdirbt wie Milch und ist dann niemandem mehr nütze, nicht einmal dem Alten Pferdefuß. Deshalb hat er seine bösen Obstgärten, denn wenn du einmal von den Früchten gekostet hast, gibst du alles , um mehr davon zu bekommen – und er will nur das Eine von dir.«
    Mairenni war bereit gewesen, diese eine Sache zu geben. Doch ihre Schwester hatte sich den Kobolden tapfer entgegengestellt und war voller blauer Flecken und blutender Wunden heimgekehrt, den Brei der bösen Früchte noch auf der Haut, und Mairenni hatte sich blass und abgemagert an sie geklammert und geweint. Sie hatte ihre Schwester geküsst und den Saft auf deren Haut geschmeckt − den Saft, für den sie ihre Seele hatte geben sollen und den sie nun ohne Gegenleistung von der Haut der Schwester lecken konnte. Dadurch war der Bann gebrochen worden. Mairenni hatte überlebt.
    Kizzy hatte sie nie kennengelernt – Mairenni war im Alten Land geblieben –, aber ihre Großmutter hatte gesagt, ihre Schwester habe ausgesehen wie Kizzy. Es gab nur eine alte Schwarzweißfotografie von ihr: ein Mädchen, das in einer Tür steht und dessen Augen vor lauter Geheimnissen funkeln. Kizzy war von ihr immer fasziniert gewesen – um die Wahrheit zu sagen, hatte sie sich selbst immer mehr als das wilde Mädchen betrachtet, das beinahe ihre Seele für ein paar Feigen verkauft hätte, und weniger als deren Schwester, ihre Großmutter, die die Lippen zusammengepresst und sich niemals nach verbotenen Früchten verzehrt hatte. Doch obwohl sie dieses Foto oft anschaute und sogar das Spiegelbild ihrer eigenen Augen und Lippen darin sah, konnte Kizzy sich in diesem Mädchen von damals nicht wiedererkennen, in dieser unheimlichen Schönheit, für die es den jungen Menschen an Worten mangelt.
    Kizzy wünschte sich so sehr, wie Sarah Ferris oder Jenny Glass zu sein, dass darunter die Wahrnehmung ihrer selbst litt, und ganz gewiss war sie blind für ihre eigene Schönheit: ihre schweren, zauberhaften Augen, der zu breite Mund, das wilde Haar und ihre Hüften, die ebenso wild sein könnten, wenn sie nur lernten, wie. Niemand sonst in der Stadt sah aus wie sie, und wenn Kizzy am Leben bliebe und zur Frau heranreifte, würde sie − und nicht die Sarahs und Jennys − diejenige sein, bei der Maler zum Pinsel griffen. Sie wäre diejenige, die eines Tages ein Dutzend verschiedene Arten, wie man ein Seidentuch tragen konnte, kennen würde, die wissen würde, wie man vom Himmel ablas, ob es Regen gäbe, oder wie man sich wilden Tieren näherte. Sie würde mit kehliger Stimme Liebeslieder in Portugiesisch und Baskisch säuseln, einen Vampir zu ewiger Ruhe betten und einer Zigarre ebenso wie der Fantasie eines Mannes Feuer geben können.
    Wenn sie am Leben bliebe und zur Frau heranreifte.
    Wenn sie sich an die Geschichten ihrer Großmutter erinnerte und diese glaubte, und wenn ihr nicht eines dieser Heerscharen von Unglücken widerfuhr, die draußen in der weiten Welt lauerten – betrunkene Autofahrer oder Blitze oder Zombies oder eine Million anderer Gefahren. Aber Kizzy war reif für die Kobolde, und wenn das Schicksal sie erwischen würde, dann wahrscheinlich in deren Gestalt. Längst hatte einer das Parfüm ihrer Sehnsucht
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