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Der verbotene Kuss

Der verbotene Kuss

Titel: Der verbotene Kuss
Autoren: Laini Taylor
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er sie bemerkte. Ein verfressener kleiner Vogel scheuchte eine Krähe aus einem Baum und ein Eichhörnchen verschätzte sich beim Absprung und landete verblüfft auf einem Haufen faulenden Laubs. Es war Herbst. Der Himmel war weiß, die Bäume waren schwarz. Kizzy erblickte ihr Spiegelbild in einer Pfütze und sah zur Seite.
    Die Kobolde sahen nicht zur Seite. Ihnen lief das Wasser im Mund zusammen, während sie Kizzy beobachteten. Im entlaubten Weißdorn entlang der Straße fanden sie kaum Deckung, und eigentlich hätte Kizzy sie sehen müssen. Von allen Mädchen in dieser unscheinbaren Stadt hätte sie diejenige sein sollen, die sie nicht erwischten, die es besser wusste. Schließlich floss in ihren Adern das Blut der Alten Welt. Ihre Familie glaubte: an Vampire und den Bösen Blick, an Hexen und Flüche und sogar an sprechende Füchse. Sie glaubten, dass ein schwarzer Hahn der Teufel in Verkleidung ist und dass Früchte, die außerhalb ihrer eigentlichen Saison reiften, nicht vertrauenswürdig waren und auf keinen Fall gegessen werden durften.
    Und natürlich glaubten sie an Kobolde.
    Wobei sie behauptet hätten, das habe nichts mit »Glauben« zu tun. Sie wüssten es vielmehr, weil Kizzys Großmutter im Alten Land einmal ihre Schwester vor diesen Kreaturen gerettet und sogar überlebt hatte. Und es war ihr nie langweilig geworden, ihnen die Geschichte zu erzählen, wie die Kobolde versucht hatten, ihr den Mund aufzudrücken und ihr eine unnatürliche Frucht hineinzuschieben, und wie sie zur Gegenwehr die Zähne eisern zusammengebissen hatte.
    Wie geschwollen ihre Lippen hinterher gewesen waren.
    »So prall wie Pflaumen, die der Wind vom Baum geschüttelt hat! Ich konnte den süßen Nektar auf der ganzen Haut riechen, aber ich habe nichts davon gekostet«, hatte sie Kizzy oft erklärt. »Deren Früchte willst du ganz bestimmt nicht probieren, Sonnenscheinchen.«
    »Ach, hier gibt es sowieso keine Kobolde, Nana«, hatte Kizzy einmal erwidert, weil ihr die Geschichte zu den Ohren herauskam und weil sie diese Stadt mit ihrem seelenlosen Einkaufszentrum und den Fußballfeldern langweilte − all diese Häuser, die einander ähnelten wie ein Ei dem anderen. »Kobolde leben vielleicht in Prag oder Barcelona, wo es auch Kaffeehäuser und Absinth gibt, und …« Sie überlegte und durchforstete ihre Tagträume nach den ersehnten Dingen, die es in anderen Städten geben musste, im Leben von Menschen, die es besser hatten. »… blinde Straßenmusikanten«, fiel ihr ein. »Und miese kleine Nonnen, die lange Brote unter die Arme geklemmt tragen. Und Kathedralen mit Wasserspeiern, die wie Ungeheuer aussehen. Und Katakomben.«
    »Was du nicht alles weißt!«, hatte ihre Großmutter geschnaubt. »Kobolde in Prag? Dummes Mädchen! Kobolde wohnen in der Hölle! Muss ich dir das denn erklären? Sie kommen nur zur Jagd hierher .«
    Wenn Kizzys Großmutter noch gelebt hätte, wären ihr die Kobolde hinter den Bäumen nicht entgangen. Sie hätte ihr gieriges Schmatzen gehört und Kizzy beschützt. Aber leider lebte sie nicht mehr. Letzten Sommer war sie ins Unerkennbare eingegangen. Neben dem Schwanenflügel hatte die Familie ihr weitere Gegenstände in den Sarg gelegt, die sie brauchen würde: Mandeln in den Taschen, damit sie zu essen hatte, einen Kompass, damit sie den Weg fand, und Geldstücke, damit sie unterwegs den einen oder anderen, der ihr begegnete, bestechen konnte – Silbermünzen, die sie in einer der Hütten im Hof geprägt und in die sie Runen graviert hatten. Und natürlich das kleine Messer, ihr Stilett, das sie immer in der Tasche getragen hatte – das kam auch mit in den Sarg.
    Als Kizzy noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie ihre Großmutter einmal gefragt, ob sie das Messer nach ihrem Tod haben könnte, und ihre Großmutter hatte geantwortet: »Sonnenscheinchen, ich werde es dort brauchen, wo ich hingehe. Du musst dir schon ein eigenes Messer besorgen.«
    Kizzy wusste, dass die Großmütter anderer Familien nicht mit Messern und getrockneten Schwanenschwingen begraben wurden, und sie vermutete, andere Großmütter verließen auch ihre Gräber nicht, um in Sonnenlaufrich tung – also im Uhrzeigersinn – um die Lebenden zu tanzen, was sehr mächtige Magie war, vor allem dann, wenn sie von Toten ausgeübt wurde. Kizzy hatte dreimal gespürt, wie der Geist ihrer Großmutter das Grab umrundete, während ihr Vater und die Onkel Erdklumpen auf den Sarg geschaufelt hatten. Sie war froh gewesen, nicht dort
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