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Der verbotene Garten

Der verbotene Garten

Titel: Der verbotene Garten
Autoren: Ami McKay
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Fragen hatte, an ihrem runden Tisch saß. Mama legte stets einen Finger auf den kleinen, herzförmigen Leberfleck an ihrer rechten Wange und schaute in ihre Kristallkugel oder in die Hand der Frau; dann überbrachte sie die Kunde. Manchmal war es gute, manchmal war es schlechte.
    Am aufregendsten fand ich es, wenn eine Besucherin Mama Geld gab, um mit den Geistern zu sprechen. Dafür mussten beide, Mama und die Frau, die Fingerspitzen an ein umgestülptes Glas legen. Mama stimmte ein Summen und Seufzen an, und bald schon bewegte sich das Glas über den Tisch, über Buchstaben und Zahlen, die Mama geschrieben hatte, damit die Geister das Schicksal leichter buchstabieren konnten. Obwohl die Geister stets das Gleiche sagten, war es jedes Mal ein Erlebnis. »Sie werden jung sterben«, übermittelte Mama allen Frauen, deren Gelenke geschwollen waren. »Aber seien Sie unbesorgt. Zu Ihrer Beerdigung werden Blumen gebracht, und niemand wird ein böses Wort über Sie verlieren.« Tränen schimmerten in Mamas Augen, wenn sie dieser Frau die Hand drückte. »Ach, würde doch uns allen so ein Glück zuteil.«
    Als ich mich an jenem Abend schließlich in Miss Keteltas’ Garten schlich, kam aus einem großen Fenster Licht. Nie hatte sich jemand gezeigt und mir verboten, den Zaun zu berühren, nie hatte ich auch nur eine Spur von Miss Keteltas oder ihrem Stock erblickt. Alles gute Zeichen, das soll so kommen. Ich hatte gar nicht vor zu lügen. Ich wollte einfach sagen: »In Ihrem Zaun ist ein Loch, Miss Keteltas. Das sollten Sie dringend reparieren lassen.«
    Durch das Fenster konnte ich in den Salon für die Dame des Hauses schauen. Miss Keteltas selbst war nicht dort, aber gleich neben dem Fenster stand ein Käfig mit einem Vogelpaar. Die Federn der Vögelchen leuchteten so grün wie die ersten Blätter im Frühling, nur die Gesichter waren tiefrosa, als wären die Vögel errötet.
    Einer der Vögel nahm ein einzelnes Körnchen aus einer Schüssel und fütterte seinen Partner damit. Dann senkte der andere Vogel artig den Kopf und erwiderte die Aufmerksamkeit. Das taten sie in einem fort, sie pickten und knusperten, bis das Schälchen leer war. Dann putzten sie sich gegenseitig das Gefieder und beschnäbelten sich, hielten dabei aber immer wieder inne und plusterten sich vor Vergnügen auf. Wie kleine Federbälle tanzten sie über die Stange, wackelten voneinander weg und aufeinander zu, bis der größere Vogel müde wurde und die Augen schloss. Seine Partnerin neigte den Kopf und schaute ihm beim Schlafen zu, die Flügel hinter dem Rücken zusammengelegt. Mrs. Riordan sah auch immer so aus, wenn sie mich nicht verstehen konnte.
    Bald darauf trat ein Dienstmädchen ins Zimmer. Ich bückte mich augenblicklich und kauerte mich ganz still unter das Fenster. Ich glaubte schon, ich wäre ertappt worden, dann aber ging das Licht aus, und der Garten wurde dunkel, sodass ich mich davonstehlen konnte.
    Ich machte mir überhaupt keine Gedanken darüber, wie spät es war. Auf dem Heimweg hatte ich bloß einen Gedanken: wie gern ich in Miss Keteltas’ Salon gesessen und ihre entzückenden Vögelchen beobachtet hätte. Hatten sich je zwei menschliche Wesen derart rührend umeinander gekümmert? Meine Mutter und mein Vater jedenfalls nicht. Wenn überhaupt, dann vielleicht Mrs. Riordan und ihr Mann.
    Mr. Riordan war lange vor meiner Geburt gestorben, doch Mrs. Riordan sprach ständig von ihm, und wenn sie seinen Namen nannte, dann mit belegter Stimme. »Zwanzig Jahre ohne Zähne und ohne Ehemann, und immer noch ist es mein Johnny, den ich mehr vermisse.«
    Als ich nach Hause kam, saß Mama draußen auf der Treppe und fächelte sich mit einer Zeitung Luft zu. »In der Dunkelheit hast du da draußen nichts zu suchen«, schimpfte sie und funkelte mich an. »Geh rein, und leg dich schlafen.«
    Als sie zu mir unter die Decke kroch, sagte sie kein Wort. Sie fragte nicht, wo ich gewesen war, doch das Schweigen neben mir erschien mir wissend. Vielleicht hatten das Glas und der Tisch es ihr verraten. M-o-t-h-w-i-l-l-f-o-r-t-l-a-u-f-e-n.
    Am nächsten Morgen waren meine Stiefel verschwunden.
    Â»Im Sommer sind Schuhe sowieso überflüssig«, sagte Mama, als ich unter das Bett robbte und danach suchte.
    Es war nicht das schönste Paar Stiefel der Welt gewesen. Das Leder wurde vorn schon
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