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Der Untergang der Telestadt

Der Untergang der Telestadt

Titel: Der Untergang der Telestadt
Autoren: Alexander Kröger
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auf. Weil er sich, überrascht, nicht artikulierte, wurde er einfach in eine Kolonne gesteckt, die Massenschlachtungen durchzuführen hatte. Das wurde dem einfältigen Pitt zuviel, möglicherweise dachte er auch an seine vernachlässigten Tiere. Er verweigerte die Arbeit, wurde schließlich verhöhnt und aus der Gruppe ausgestoßen. Aber selbst die damals schon existierenden Outsider standen ihm nicht bei. Was ich nicht begreife – man kümmerte sich offenbar überhaupt nicht um seine Identität, vielleicht deshalb, weil sich wahrscheinlich etliche Jugendliche von ihren Familien gelöst hatten.
    Pitt hat fluchtartig Seestadt verlassen, wäre um ein Haar einem Kraken in die Arme gelaufen, und er verausgabte sich bis zur Erschöpfung. Danach entstanden mehrere Kapitel wirres Zeug, so daß wir annehmen müssen, daß der Verfasser eine Krankheit durchlitt oder zeitweise tatsächlich nicht bei klarem Verstand war. Ich hatte zu tun, um in das Geschriebene einen einigermaßen straffen Faden hineinzuinterpretieren. Hellhörig wurde ich, als eine Reihe von Namen in den Aufzeichnungen erschienen, bis mir aufging, daß Pitt begonnen hatte, seine Tiere zu personifizieren. Sie waren wohl seine echten Lebensgefährten geworden! Er hielt sie zum Spielen, verzehrte ihre Produkte. Aber es gibt keine Anzeichen mehr, daß er jemals wieder eines seiner Tiere geschlachtet hätte. Allerdings beschreibt er Jagdabenteuer – übrigens kapitelweise –, zum Vegetarier ist er also nicht geworden.
    Anfangs, nach seiner Flucht aus Seestadt, muß er eine mächtige Angst vor seinesgleichen empfunden haben. Sobald sich ein Leichenzug einfand, und das geschah wohl häufig, verkroch er sich schutzsuchend bei seinen Tieren. Doch in irgendeiner Weise zog ihn das zunehmend Mystische dieser Totenehrung in seinen Bann. Ein gut Teil der Wirrnis in seinen Aufzeichnungen ist wohl darauf zurückzuführen. Es ist auch anzunehmen, daß er zu einem Zeitpunkt mehr und mehr seine Furcht vor den Seestädtern überwand und sich in die Trauergemeinde einmischte, denn ich fand in seiner Schrift Ansätze von Beschreibungen und Gebeten, die man als Anfänge dessen auslegen könnte, was wir angetroffen haben.
    Es müssen jedoch Jahre vergangen sein, bis Pitt sich entschloß, Seestadt abermals einen Besuch abzustatten.
    Der Marsch dorthin ließ sich nunmehr leichter an, da durch die vielen Leichenzüge der Bewuchs kurz gehalten wurde und auch die Tiere das Gebiet mieden.
    Immerhin bedeutete eine solche Bestattung in der TELESALT für die Seestädter einen beträchtlichen Aufwand. Setzten sie anfangs noch Fahrzeuge ein, dominierte später mehr und mehr der Fußmarsch, natürlich in erster Linie geschuldet der Energiesituation.
    Nach und nach wurden die Trauerzüge Selbstzweck. Man befand sich wieder für mindestens eine Woche in Gemeinschaft, fühlte sich mehr aufeinander angewiesen, rückte enger zusammen. Es existierten keine Gelegenheiten unterwegs im Urwald, sich der Agitation zu entziehen. Und diesen Vorteil hatten jene, die sich noch immer für den Fortschritt auf Neuerde verantwortlich fühlten, bald erkannt. Aber was zunächst als bewußt angewandte Einflußnahme aufkam, verschliff allmählich auch bei den Administratoren ins Virtuelle, schließlich in jenes Gemisch aus Historie, Legende und Glauben, das von Generation zu Generation unentwirrbarer wurde und das wir angetroffen haben.
    Pitt verfiel dem. Ja, er war in diesem Mysterium offenbar schon so verwurzelt, daß er, als ihm auf seinem Marsch nach Seestadt ein Leichenzug entgegenkam, sich diesem anschloß, mit ihm zur TELESALT pilgerte und danach erst, auch in Gesellschaft der Trauergemeinde, nach Seestadt ging. Wie er bei solchen Eskapaden seine Identität wahrte oder darstellte, bleibt uns verborgen. Daß es ihm gelang, ist eigentlich nur damit zu erklären, daß insgesamt der Zusammenhalt in dieser Gesellschaft lockerer geworden war, daß der Druck auf unbedingte Gemeinsamkeit nachgelassen hatte. Mehr Freiheit für das Individuum, aber ganz gewiß aus pragmatischen Erwägungen. In dem Maße, in dem die Gesellschaft dem einzelnen nichts Ausreichendes mehr bieten konnte, hatte dieser kein Interesse, weil kein Motiv, dieser Gesellschaft zu opfern. Einen Kredit auf die Zukunft gab offenbar keiner, es fehlte wohl der Glaube an sie…« Ich trank einen Schluck Saft.
    Carlos nahm die Gelegenheit wahr. »Sie haben aber doch die Hoffnung auf die Erde nie aufgegeben, Sam«, sagte er eindringlich. »Wir hatten sie
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