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Der träumende Diamant 2 - Erdmagie

Titel: Der träumende Diamant 2 - Erdmagie
Autoren: Shana Abé
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zu Boden und blieb dort wie ein weißes, bauchiges Gespenst auf den braunen Blättern und dem dunklen Erdboden liegen.
    »Warte.« Kim packte sie am Arm, ehe sie sich auch nur drei Schritte entfernt hatte. »Du kannst nicht gehen. Wir haben gerade erst angefangen.«
    Sie sah zu ihm empor, doch es war inzwischen dunkler geworden, sodass er ihr Gesicht nicht richtig erkennen und in ihm lesen konnte. Er war empört, dass er den weiten Weg für nichts und wieder nichts zurückgelegt haben sollte, und so verstärkte er seinen Griff und schüttelte sie.
    »Oh, lass sie los«, sagte Joan. »Sie ist sowieso zu jung dafür. Das wussten wir alle.«
    »Ich habe es geschafft, als ich jünger als sie war«, entgegnete Kim.
    »Ja, aber du musstest auch etwas beweisen, oder nicht?« Diesmal hatte Audrey, sein Zwilling, gesprochen. »Der älteste Sohn, der zukünftige Alpha des Stammes. Du wolltest uns beeindrucken.« Ungerührt zuckte sie mit den Schultern. »Das brauchst du gar nicht abzustreiten. Ich hätte an deiner Stelle das Gleiche getan. Es war schlau, sich ein Ritual zu überlegen.«
    Rhys seufzte. »Du kannst sie ebenso gut gehen lassen, Kimber. Der Moment ist verstrichen. Sie haben beide recht, und das weißt du: Sie ist einfach noch zu jung. Sie ist immer zu jung. Und bislang hat es ohnehin noch keinerlei Anzeichen
dafür gegeben, dass sie irgendeine der Gaben besitzt.«
    Lia wand sich unter seiner Hand, doch Audrey hatte ihn daran erinnert, wer er war und wer er eines Tages sein würde, und so entgegnete Kim: »Du weißt, was das bedeutet, Amalia. Du wirst keine von uns sein, nie wahrhaft zu uns gehören, bis das Ritual vollzogen ist. Deine Gaben werden sich nicht zeigen. Oder wenn doch, dann werden sie nicht so mächtig sein.«
    »Ja«, antwortete sie niedergeschlagen. »Ich weiß.«
    Sie schüttelte seinen Griff ab, wandte sich dem Vogelkäfig zu und hakte die Tür auf. Piepsen und aneinanderreibende Federn waren zu hören. Als sie sich wieder aufrichtete, umschloss Amalia einen dunklen, kleinen Körper in ihrer Faust.
    »Für die Drákon «, sagte Amalia und brach dem Vogel das Genick.
    Ihre Finger öffneten sich wieder. Der kleine Zaunkönig landete neben ihrem Umhängetuch auf dem Boden, und ein Flügel lag in einem Halbbogen ausgebreitet wie ein Fächer auf den Quasten.
    »Du musst es mit beiden tun«, stieß Rhys in der plötzlichen Stille hervor.
    Ohne ein weiteres Wort steckte Lias ein weiteres Mal die Hand in den Käfig und zog den anderen Zaunkönig heraus.
    Wieder glitt ein unsichtbarer Windstoß über sie dahin und ließ die Blätter rascheln. Sie schleuderte den zweiten Vogel in die Brise; er flatterte mit den Flügeln, zappelte und schraubte sich dann in ungleichmäßigen Kreisen hinauf, bis er in der Nacht verschwunden war.

    Lia warf Kimber mit hochgerecktem Kinn einen scharfen Blick zu. »Ich schätze, ich werde immer nur halb so gut wie du sein«, sagte seine kleine Schwester, raffte mit den Händen ihren Rock und stapfte den Pfad hinunter, der zurück zu Chasen Manor führte.
    »Eine Gestaltwandlerin«, dachte Kim laut, während er ihr hinterhersah. »Ohne Zweifel.«
     
    Einmal, vor vielen Jahren, hatte Lia ihre Mutter gefragt, ob sie das Lied höre.
    »Das Abendläuten?«, hatte Rue Langford gefragt, während sie ihre Tochter im Bett zudeckte.
    »Nein, Mama. Das andere Lied. Das leise.«
    »Das leise? Die Spieldose deines Vaters?«
    »Nein, das andere Lied.«
    Und Mama hatte mit ihren wunderschönen, braunen Augen zu ihr hinabgeblickt, den Kopf schief gelegt, ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie und Papa hatten an diesem Abend eine Fête für die Mitglieder des Rates und ihre Frauen gegeben. Sie trug einen Rock in den Farben Elfenbein und Creme, und sie roch nach Blumen und Seife und dem silbrigen Staub ihres Haarpuders. Sie trug Perlen, die mit einer leisen, sanften Melodie klimperten, schlicht wie ein Kirchenlied. Lia streckte die Hand aus und ließ ihre Finger über das Armband gleiten.
    »Ich fürchte, ich weiß nicht, welches Lied du sonst meinst, meine Liebe.«
    »Na, dieses …«
    Audrey war der Kinderstube bereits entwachsen, aber Joan lag im Bett an der gegenüberliegenden Wand und schmollte, weil sie noch nicht alt genug war, um an der Feier teilzunehmen.

    »Sie sagt ständig, dass sie ein Lied hört«, sagte Joan in sehr gelangweiltem, erwachsenem Tonfall.
    Mamas Blick wurde schärfer. »Was für eine Art von Lied?«
    »Ein leises. Du weißt schon … wie der Wind, der über eine Wiese
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