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Der träumende Diamant 2 - Erdmagie

Titel: Der träumende Diamant 2 - Erdmagie
Autoren: Shana Abé
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ihm den Rücken zugewandt hatte, und strich mit der Handfläche auf ihrem zerknitterten, blauen Blümchenkittel auf und ab.
    Er antwortete nicht.
    »Einige Mitglieder jedenfalls.« Sie warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Manche davon liebst du sogar.«
    »Wenn du das sagst.«
    »Du weißt, was wir sind«, beharrte sie. »Du hast uns im
Laufe der Jahre geholfen. Du … stehst meinen Eltern nahe. Du hast dem Stamm geholfen.«
    »Es geschah nicht aus Liebe, das kann ich dir versichern.«
    »Um was ging es denn dann? Nur um Geld?«
    »Geldangelegenheiten liegen mir sehr am Herzen, mein Kind. Man sollte sie nicht unterschätzen.«
    »Und was ist mit Macht?«, fragte sie nun sanfter. »Ist sie dir genauso wichtig?«
    »Hast du den ganzen Weg zurückgelegt, um meinen Charakter zu ergründen, Löwenmäulchen?«
    Lia drehte sich um und sah ihm unverwandt ins Gesicht. Sie mochte seinen Kosenamen für sie nicht, und das war auch noch nie anders gewesen. Er klang so drollig und so kindisch, während sich in ihrem Innern alles stark und nüchtern anfühlte.
    Aber sie wusste, was er über sie dachte. Sie hatte es immer gewusst.
    Er war der einzige Sterbliche, den der Stamm duldete. Er war der Einzige, der die Bürde trug, ihre Geheimnisse zu wahren. Während sie und alle ihrer Art im grünen Paradies von Darkfrith mehr oder weniger gefangen gehalten waren, war Zane das einzige Lebewesen, dem es freistand, nach eigenem Willen zu kommen und zu gehen. Selbst ihr Vater, der Alpha, neigte dazu, den Rat darüber in Kenntnis zu setzen, wenn er zu reisen gedachte.
    Das war ihre Lebensweise. Sie wusste, dass sie auf diese Weise all die Jahrhunderte überlebt hatten. Die Anderen hatten Vieh gehalten oder Getreide angebaut. Die Drákon hatten Stillschweigen gewahrt, Jahr um Jahr um Jahr.
    Lia war die Tochter eines Lords. Sie lebte in einem Herrenhaus
voller Glanz und Licht. Jeden Tag blickte sie aus ihrem Schlafzimmerfenster hinaus in den weiten Himmel und auf wilde, bewaldete Hügel, und manchmal fühlte sie sich so kurz davor zu ersticken, dass sie es für ein Wunder hielt, nicht den Mund aufzureißen, zu schreien und niemals mehr aufzuhören.
    Der Rat lehrte die Dorfkinder:
    Auf der ganzen Welt sind wir die Letzten unserer Art.
Es ist unsere Pflicht, in Sicherheit zu bleiben.
Es ist unsere Pflicht, hierzubleiben.
Wir schützen die Erdgebundenen: die Jungen, die Frauen,
die Schwachen.
Wie sind die Drákon. Die Pflicht gegenüber dem Stamm
steht über allem.
    Rhys und Audrey und Joan - selbst Kimber, der immerhin eine richtige Schule besuchen durfte - bewegten sich durchs Leben, als ob es nichts Besseres gäbe als das, was ihnen vorgesetzt worden war. Ihre Wege waren vorgezeichnet, ihre Hoffnungen und ihre Zukunft würde für alle Zeiten durch die Grenzen ihres Landes beschränkt sein. Sie waren hier geboren worden, hier würden sie einen Gefährten finden, und hier würden sie auch sterben. Für sie war die Welt hinter dem Nebel und dem Farn kaum von Bedeutung.
    Lia verstand, warum ihre Mutter davongelaufen war, damals, vor vielen Jahren. Wenn sie nur einen Augenblick darüber nachdachte, könnte sie es ihr sofort gleichtun …
    Aber das war nicht möglich. Sie verfügte nicht über die Gaben wie der Rest ihrer Familie. Sie konnte nicht die Wandlung vollziehen und zu Rauch werden, ganz zu schweigen
davon, ein Drache zu werden. Auch war sie nicht schön, nicht tapfer, spiegelte sie in keiner Beziehung die Größe ihrer Art wider. Es hatte all ihre dürftigen Kräfte aufgebraucht, um auch nur so weit zu kommen, und Lia wusste, dass ihre Zeit hier kurz bemessen sein würde. Nur allzu bald würde man sie finden.
    Es gab nur zwei Dinge, die für sie anders als für den Rest des Stammes waren - zwei dunkle, verstörende Dinge. Und einer dieser Unterschiede saß vor ihr in diesem Zimmer.
    Zane hatte sich nicht von seinem Stuhl gerührt. Die Lichter brannten hell, und die Schatten waren gestochen scharf: Er war eine Skizze in Kohle und Licht, wie er dasaß und sie unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtete. Sie kannte diesen Blick aus den vielen Jahren, in denen sie ihm dabei zugesehen hatte, wie er so tat, als entspanne er sich in Chasen Manor. Jede Faser seines Körpers war dann von ausgesuchter Eleganz, sein Mantel war aufgeknöpft und über die Kissen gelegt, und seine Satinweste glänzte wie gelbgrauer Zinn.
    Seine Augen waren heller als Bernstein. Sein Haar war sehr lang und dick und honigbraun. Er hatte ein
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