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Der Tod ist mein Beruf

Der Tod ist mein Beruf

Titel: Der Tod ist mein Beruf
Autoren: Robert Merle
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mir sah ich Vaters mageres Gesicht sich vor Zorn verzerren. Wie alle Tage kamen wir zehn Minuten vor Beginn der Messe in der Kirche an. Wir nahmen Platz, knieten nieder und beteten. Nach einer Weile erhob sich Vater wieder, legte sein Meßbuch auf das Betpult, setzte sich und kreuzte die Arme. Ich tat das gleiche. Es war kalt. Schnee wirbelte an die Kirchenfenster, ich stand auf einer ungeheuren vereisten Steppe und gab als Nachhut mit meinen Männern Schüsse ab. Die Steppe verschwand, ich war in einem Urwald, mit einem Gewehr in der Hand, von wilden Tieren umzingelt, von Eingeborenen verfolgt, und litt unter Hitze und Hunger. Die Eingeborenen fingen mich, sie banden mich an einen Pfahl, sie schnitten mir Nase, Ohren und die Geschlechtsteile ab. Plötzlich befand ich mich im Palast des Gouverneurs, er wurde von den Negern belagert, ein Soldat fiel an meiner Seite, ich ergriff seine Waffe und schoß ohne Unterbrechung mit verblüffender Treffsicherheit. Die Messe begann, ich stand auf und betete im stillen: ,Lieber Gott, gib, daß ich wenigstens Missionar werde.' Vater nahm sein Meßbuch zur Hand, ich tat das gleiche und folgte dem Gottesdienst, ohne eine Zeile zu überspringen. Nach der Messe blieben wir noch zehn Minuten, und plötzlich schnürte sich mir die Kehle zusammen; mir kam der Gedanke, Vater hätte mich vielleicht schon zum Weltgeistlichen bestimmt. Wir verließen die Kirche. Als wir ein paar Schritte gegangen waren, unter- drückte ich das Zittern, das mich schüttelte, und sagte: ,.Bitte, Vater!"
    Er sagte, ohne den Kopf zu drehen: ,.Ja?"
    ,.Ich bitte, sprechen zu dürfen."

    Die Muskeln seiner Kiefer zogen sich zusammen, und er sagte in trockenem, unzufriedenem Ton: ,.Ja."
    ,.Wenn es dir recht ist, Vater, möchte ich Missionar werden."
    Er sagte barsch: ,.Du wirst tun, was man dir sagt."
    Es war aus. Ich wechselte den Tritt, ich zählte ganz leise: ,.Links. .. links. .."
    Vater blieb plötzlich stehen und ließ seinen Blick auf mir ruhen. ,.Und warum willst du Missionar werden?"
    Ich log: ,.Weil es am mühseligsten ist."
    ,.So, du willst Missionar werden, weil es am mühseligsten ist?"
    '.Ja, Vater."
    Er ging weiter, nach etwa zwanzig Schritten drehte er den Kopf leicht zu mir her und sagte verlegen: ,. Wir werden sehen."
    Nach ein paar Schritten begann er wieder: ,.So, du möchtest Missionar werden."
    Ich sah zu ihm auf, er sah mich scharf an, runzelte die Stirn und wiederholte in strengern Ton: "Wir werden sehen."
    An der Ecke der Schloßstraße blieb er stehen. ,.Auf Wiedersehen, Rudolf."
    Ich stand stramm. ,.Auf Wiedersehen, Vater."
    Er winkte, ich machte eine vorschriftsmäßige Kehrtwendung und ging in gerader Haltung davon. Ich bog in die Schloßstraße ein, ich drehte mich um, Vater war nicht mehr zu sehen, und ich fing an, wie ein Verrückter zu rennen. Es war etwas Unerhörtes geschehen: Vater hatte nicht nein gesagt. Im Laufen schwang ich das Gewehr, das ich im Palast des Gouverneurs dem verwundeten Soldaten abgenommen hatte, und schoß damit auf den Teufel. Mein erster Schuß riß ihm die linke Gesichts- hälfte weg. Die Hälfte seines Gehirns spritzte an die Aborttür, sein linkes Auge hing heraus, während er mich mit dem rechten entsetzt ansah und in seinem zerfetzten, blutigen Mund sich seine Zunge noch bewegte. Ich gab einen zweiten Schuß ab, der die rechte Seite wegriß, während sich die andere unverzüglich erneuerte und nun das linke Auge mich entsetzt und flehend ansah. Ich durchschritt die Vorhalle der Schule, zog meine Mütze, um den Pförtner zu grüßen, und hörte auf zu schießen. Es klingelte, ich begab mich auf meinen Platz, und Pater Thaler kam. Um zehn Uhr gingen wir in den Arbeitssaal, Hans Werner setzte sich neben mich, sein rechtes Auge war schwarz und verquollen, ich blickte ihn an, und mit einem Anflug von Stolz flüsterte er mir zu: "Mensch, hab' ich aber was abgekriegt!"
    Und er setzte leise hinzu: "Ich erkläre es dir in der Pause."
    Ich blickte sofort weg und vertiefte mich in mein Buch. Es klingelte, und wir gingen auf den Hof der großen Schüler. Der Schnee war sehr glatt geworden, ich erreichte die Mauer der Kapelle und fing an, meine Schritte zu zählen. Von der Kapellmauer bis zur Mauer des Zeichensaals waren es hundertzweiundfünfzig. Wenn ich am Ziel nur hunderteinundfünfzig oder aber hundertdreiundfünfzig herausbekam, zählte der Marsch nicht. Innerhalb einer Stunde mußte ich die Strecke vierzigmal zurückgelegt haben. Wenn ich sie aus Versehen nur
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