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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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wieder aufholte und an Zuversicht gewann.
    „Karl, hör auf. Lass uns reden.“ Ich nahm das Tempo etwas heraus und legte viel Angst in meine Stimme. Es funktionierte. Er gab wieder Gas.
    Jetzt hatte ich meinen typischen Jogging-Rhythmus gefunden. Ich war eins mit dem Wald und kannte die Strecke aus unzähligen Läufen. Meine einzige Orientierung waren die Geräusche, die Karl verursachte. Sein Trampeln. Und noch viel lauter: sein Keuchen. Wenn er näher kam, nahm ich mehr Tempo auf. Wurden seine Geräusche etwas leiser, wurde ich langsamer, schaute mich um und rief mit zitternder Stimme, aber laut und schrill: „Karl, tu mir nichts.“
    Das Muster war klar: ziehen und auf Distanz halten. Sein Tempo steuern. Wurde er schwach, feuerte ich ihn durch einige wohlgesetzte Worte an. Kam er mir zu nahe, legte ich einen kleinen Sprint ein. Aber immer war ich das Opfer.
    Mein Zeitgefühl sagte mir eindeutig, dass wir langsamer wurden. Seine Kräfte ließen nach. Ich fühlte mich richtig gut. Wie musste es für ihn sein? Übergewicht, Fettleibigkeit, kein Sport – wie lange konnte ein Körper eine solche Strapaze aushalten? Sein Arzt hatte ihm schon vor Jahren prognostiziert, dass er herzinfarktgefährdet sei. Doch Karl kannte keine Risiken. Er blendete sie aus.
    Die lange Steigung zum Schwarzen Berg begann. Nach einigen hundert Metern kamen wir am Grillplatz vorbei. Die Heumann-Hütte. Einem Herrn Heumann zu Ehren so benannt, weil er die Idee hierzu gehabt hatte und auch das Holz geliefert und die Arbeiter kostenlos gestellt hatte. An einem großen Wandertag, auch Landrat Pipa war dabei, fand hier ein Jossgrund-Fest statt.
    Plötzlich hörte ich ihn stolpern und fallen. Ich schaute mich um. Er rappelte sich auf und lief weiter. Sein Keuchen wurde noch lauter. Der Anstieg wurde steiler. Es war unglaublich, wie lange er durchhielt. Und wenn mein Plan nicht aufging?
    Dann kamen einige sehr steile Passagen. Rechts wieder ein Hochsitz. Wenige Meter später war es dann vorbei. Er fiel hin und griff sich mit der rechten Hand auf die linke Seite seiner Brust. Schwer keuchend stieß er hervor: Hilf mir!
    Vorsichtig näherte ich mich ihm, hielt aber einen Sicherheitsabstand. Es konnte eine Finte sein. Doch es sah so aus, als sei er mit seinen Kräften am Ende. Seine Augen sprachen die Wahrheit. Das bösartige Glitzern war einem milchigen Bernsteingelb gewichen. Er sah auf einmal sehr verletzlich aus. „Hilf mir, mir geht es nicht gut.“
    Ich nahm mein Handy und wählte den Notruf. Es gab Funkempfang. Das hatte ich zu einem früheren Zeitpunkt ausprobiert. Geduldig wartete ich an seiner Seite. Mitten im Wald.
    Bisher hatte ich nichts gehört von den Geräuschen des Waldes. Ich war viel zu sehr mit meinen Gedanken, meiner Angst und meiner Tempokontrolle beschäftigt gewesen. Mein Tunnel.
    Als es in mir still wurde, vernahm ich auf einmal die Stimmen des Waldes. Ein Vogelkonzert aus unterschiedlichstem Gezwitscher war zu hören. Es wurde aber rasch leiser. Mit der zunehmenden Dunkelheit verließen immer mehr Vögel das Orchester.
    Morgens gab es eine Reihenfolge, die ich bei meinen diversen Läufen, die zum Teil noch in der Dunkelheit begannen, kennengelernt hatte. Die Nachtigall und der Sumpfrohrsänger singen auch nachts. Morgens bei der ersten trüben Dämmerung meldet sich dann als Erste die Feldlerche. Jeder Vogel hat seine eigene Gesangshelligkeit, und es gibt eine Reihenfolge bei den verschiedenen Vogelarten. Schnell wurde es stiller, und der Wald hüllte sich immer mehr in Schweigen.
    Karl verzog das Gesicht. Ich konnte es in der Dunkelheit kaum erkennen und leuchtete ihm mit der kleinen Taschenlampe meines Schlüsselanhängers ins Gesicht. Es sah so aus, als ob er schreien wollte, er brachte aber nicht einmal ein Flüstern heraus. Er bewegte die Lippen. Seine Augen, auf einmal ängstlich und milde geworden, versuchten, mich näher zu sich heranzuholen. Ich widerstand meinem ersten Impuls, mich ihm zu nähern. Wenn er nur simulierte? Er hatte Bärenkräfte. Bekam er mich erst in seine Finger, war es um mich geschehen. Er würde mich erwürgen, mir das Genick brechen. Nein, ich konnte ihm nicht trauen.
    Seine stillen Schreie wurden leiser. Auch der Wald fiel zunehmend in dieses Schweigen ein. Die Dunkelheit des nahen Schwarzen Bergs legte sich wie ein Teppich voller Trost über Karl und deckte ihn zu. Beschützend. Wärmend. Karl zuckte merkwürdig und lag dann ganz still. Eine Krähe oder ein Eichelhäher, ich konnte es nicht
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