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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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eigentlich hast du das Zeug dazu. Aber dennoch wirst du es nicht schaffen.“ Ein neues Mantra, das ich wiederholen würde.
    Schon kam er in großen Schritten auf mich zu. Wenn Worte nicht halfen, nahm er schnell seine Fäuste zu Hilfe.
    Ich ging einige Schritte zurück.
    „Was willst du damit sagen?“
    „Du schaffst es deshalb nicht, weil ich dir den Rücken kehren werde. Daran wirst du zerbrechen. Ich bin es leid, ein Leben an deiner Seite zu führen. Das Vorzeigeweibchen. Die Schöne und das Biest. Du kotzt mich an. Es ekelt mich vor dir. Ich werde mein Leben leben und mir einen passenden Mann suchen.“
    Er kam mir hinterher. Ich musste aufpassen, dass ich im Rückwärtsgehen nicht strauchelte. Diesen Moment hatte ich in den letzten Tagen unzählige Male vor meinem geistigen Auge durchgespielt. Seine Bewegungsmuster. Wie schnell konnte er mich packen? Mir war klar, dass er mich nicht ergreifen durfte. Seine Kraft war unglaublich. Er hätte mir alle Knochen brechen können. Also immer so weit von ihm entfernt sein und die Situation unter Kontrolle haben, dass er mich nicht erwischte. Aber er musste mir folgen. Deshalb hatte ich überlegt, die Strategie zu ändern. The Tipping Point, nannte man das wohl. Den Punkt, an dem etwas umkippte. Zunächst sollten ihn meine Angriffe reizen und aggressiv machen. Dann aber musste ich zum Opfer werden, das er bedingungslos unterwerfen wollte. Also musste ich dann eher schwach und demütig werden.
    „Nein, Karl. Komm mir nicht zu nahe.“ Es fiel mir leicht, ganz laut zu werden und hysterisch zu klingen. Ich hatte es oft genug erlebt.
    Noch immer rückwärtsgehend sah ich ihn an. Mein Blick nahm wahr, dass seine beiden Augen zu Flammenwerfern zu werden schienen. Sie drohten mich zu versengen.
    Nun kam doch Angst auf. Sie stieg mir in die Kehle und machte mich steif. Instinktiv drehte ich mich um. Schnell gab ich Gas und lief einige Schritte den Weg entlang. Ein kurzer Sprint. Ich entkam ihm gerade noch. Sein Atem zischte hinter mir her.
    Tatsächlich verfolgte er mich. Das wollte ich. Aber ich spürte auch meine Panik. Wenn er mich einholte, wäre ich geliefert. Ein kurzer Zwischensprint, wie Tim es mich gelehrt hatte, und ich legte einige Meter zwischen ihn und mich. Ich schaute über meine Schulter zurück und sah, dass er wie eine Dampfwalze hinter mir herschob, den an dieser Stelle wirklich steilen Berg hinauf. Er hatte Feuer gefangen. Die Kessel glühten. Das Dampfross tobte wie ein furchtbarer Drache.
    Nun schien es mir, also ob ich die Situation unter Kontrolle hatte. Die Strecke kannte ich bestens und wusste, dass es noch etwa 100 Meter weiter bergauf ging. Oben standen einige Funkmasten. Dann wurde es wieder eben.
    Meine Herausforderung bestand darin, ihm zu entkommen, aber er musste das Gefühl haben, mich erwischen zu können. Ab und zu drehte ich mich nach hinten und schrie: „Karl, nicht. Lass mich in Ruhe.“
    Ich sah, dass ihn genau das anstachelte. Je lauter ich war, desto mehr wollte er mich zum Schweigen bringen. Endgültig. Meine Taktik ging also auf. Er war als Torero unterwegs und wollte seinen kleinen aufmüpfigen Stier aufspießen. Stierkampf oder Stierlauf? Verdrehte Wirklichkeiten.
    Keine Ablenkung. Mein Laufplan musste sehr präzise eingehalten werden. Wir hatten den kleinen Berg überwunden. Links tauchten die beiden Funkmasten auf. Es wurde eben, aber holprig, weil die asphaltierte Strecke vorbei war. Vorsicht! Nur nicht straucheln und fallen. Die Lichtverhältnisse waren nicht gerade günstig.
    Ich hielt ihn auf zehn oder fünfzehn Meter Abstand. Diese Distanz schien mir das beste Band zu sein, um ihn hinterherzuziehen, aber doch genügend Spielraum für eigene Manöver zu haben. Wer würde gewinnen? Der flüchtige weibliche Stier, in der Tat mein Sternzeichen, was ich erst jetzt realisierte, oder der trunkene und übergewichtige Möchtegern-Torero?
    Der Weg machte einen leichten Bogen nach rechts. Der Wald wurde hier dunkler und geheimnisvoller. In der Dämmerung sah es so aus, als würde man in ein schwarzes Loch hineinlaufen. Oft war ich die Strecke gejoggt. Schließlich führte sie zum Schwarzen Berg. Aber sie ging die nächsten Kilometer erst einmal bergab. Meine Planung sah einen langen Anstieg vor. Er folgte mir, wurde aber schon etwas langsamer.
    Vielleicht war die Strecke genau richtig. Weil es bergab ging, glaubte er, mich einholen zu können. Es fiel ihm scheinbar leicht, mir zu folgen. Ich reduzierte das Tempo und merkte, dass er
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