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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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musste es stimmen.
    „Danke.“ Ich freute mich wirklich darüber. Und wieder fand ich es interessant, dass ich offensichtlich im Fokus der Jossgründer stand. Bäcker Trüb. Friseurwerk Hull. Hatte man mir jetzt eine eigene Identität zugestanden? Oder war ich noch immer das Anhängsel meines Mannes? Es fühlte sich anders an.
    „Also“, begann Severine, „welche Frisur wünschst du dir heute? Wie immer?“
    „Nein“, antwortete ich. „Die Haare kommen ab.“
    „Bist du verrückt?“ Sie sah mich voller Entsetzen aus dem Spiegel an.
    „Nein. Kurzhaarfrisur.“
    Sie hielt einige meiner langen Haare mit ihren Fingern fest, eine ihrer üblichen Gesten. Zunächst bewegte sich ihr Kopf langsam von links nach rechts und zurück. Sie überlegte. Langsam ging die horizontale Bewegung in einer vertikale über. Intuitiv schien sie etwas verstanden zu haben, auch wenn ihr die Gründe oder Hintergründe fehlten.
    „Du bist dir sicher?“
    „Ja.“
    Als Übersprungshandlung suchte sie in ihrem Werkzeugkasten nach der richtigen Schere.
    „Kurzhaarfrisur.“
    „Ja.“
    „Wie kurz?“
    „Was passt zu meinem Typ?“
    „Du kannst alles tragen, zumal du jetzt einen Body hast, um den dich alle Frauen beneiden.“
    „Also so kurz, dass ich noch eine Struktur in die Haare bekomme.“
    „Und die Farbe?“
    Ich lächelte. Die frühere Färbung war schon sehr weit herausgewachsen. In den letzten Wochen hatte ich keine Lust mehr verspürt, die Haare nachzufärben. Also hatten sich unten dunkle Ansätze gebildet, während das künstliche, von Karl gewünschte Blond nur noch oben sprießte.
    „Natur.“ Es klang gar nicht trotzig, sondern einfach nur natürlich. Ich war bei mir angekommen.
    Severine schnippelte drauflos mit einem Tempo, das offensichtlich bedeuten sollte: Ich verstehe es nicht, und ich mache es jetzt, bevor du dich anders entscheidest. Es wird schon richtig sein.
    Eine neue Frau entstand. Ich war selbst verwundert, wer mir da im Spiegel entgegenblickte. War das noch ich?
    Severine erging es genauso. Sehr vorsichtig nahm sie den Spiegel, um mir meinen neu geformten Kopf von hinten und seitlich zu zeigen. Irgendwie schien alles zerbrechlich zu sein. Das Bild. Die Frisur. Der neu geborene Mensch.
    Sie spiegelte mich so behutsam, dass ich mich wie die Raupe in einem Kokon fühlte, gerade ausschlüpfend. Ein Schmetterling, der mit seinen zartleuchtenden und noch so zerbrechlichen Flügeln seinen ersten Flug unternahm.

ÜBERGANG
    In den letzten Tagen hatte Karls Missmut extrem zugenommen. Er rollte wie ein Pulverfass durch die Gegend. Schwerfällig, schwankend, grob. Aber jederzeit bereit, zu explodieren, wenn der richtige Zündfunke ihm zu nahe kam.
    Kein Konzept erschien richtig. Ging ich ihm aus dem Weg, so steigerte ich dadurch seine latente Aggressivität. War ich in seiner Nähe und erfüllte meine hausfraulichen Pflichten, wuchsen seine cholerischen Triebe weiter.
    Was sollte ich tun? Ich spürte, dass die Entscheidung nahte. Er oder ich. In der letzten Nacht hatte ich einen schrillen Alptraum, an dessen Einzelheiten ich mich nicht mehr erinnern konnte. Aber seine Nachwirkungen spürte ich heute den ganzen Tag. Ich fühlte mich schlecht. Mir war übel.
    Das Abendessen ging auch völlig in die Hose. Ich konnte meine sozialen Instinkte nicht ausschalten und versuchte sogar jetzt noch, ihm zu helfen. Verrückt. Um ihn von seinen Fleischportionen wegzuholen, hatte ich eine Pizza bei Da Salvo bestellt. Immerhin mit sehr viel Salami und Peperoniwurst belegt. Diavolo oder Vesuvo. Ich wusste nicht mehr, wie sie hieß. Aber Salvo hatte mich verstanden: Die mit den sehr scharfen Peperoncinis, die Karl sonst so liebte.
    Sonst. Ich merkte aber schon an seinem Grunzen, dass Pizza heute total daneben war.
    Unser Gespräch driftete auch in die falsche Richtung. Jedes Wort war falsch.
    So stierte er mich während des Essens nur an. Sein rechtes, böses Auge musterte mich wie eine Schlange, die bereit war zuzubeißen.
    Ja, ich gab ihm noch einen weiteren Anlass. Saß ich doch heute in Sportkleidung am Tisch. Ich hatte entschieden, das Abendessen ausfallen zu lassen und einen Abendlauf zu machen. Tim war dabei, meine Fähigkeiten noch breiter zu trainieren und von der harten Spezialisierung auf Morgenläufe und Marathon zu befreien. Das war die eine Alternative des heutigen Abends. Für die andere hatte ich mein kleines flaches Handy eingesteckt und mich vergewissert, dass der Akku vollgeladen war.
    Karl spürte, dass
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