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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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was meine Waden und Fußknöchel mit Schmerzen quittierten. Ein großer blonder Hüne bahnte sich den Weg durch die erschöpften Läufer und wollte mich sofort voller Freude in den Arm nehmen. Wie in Zeitlupe sah ich ihn auf mich zukommen und wusste, dass ich es nicht zulassen durfte. Meine Rippen!
    Wild schüttelte ich den Kopf und hielt ihn mir mit ausgestreckten Armen vom Leib. Mein Gesicht war klatschnass vom Schweiß, und nun kamen auch noch Tränenströme dazu. Die Freude ob des Siegs, die Erschöpfung, die Traurigkeit über meine Dummheit, Tim nicht die Wahrheit gesagt zu haben, die Verletzung, die ich ihm jetzt zufügen würde, weil ich seine spontane Freude und Umarmung unterband.
    Ich lehnte mich an ihn, schluchzend. „Tim verzeih mir, ich war nicht ehrlich zu dir.“
    Er wurde noch steifer und erwartete wohl Schlimmes.
    „Du darfst mich nicht in den Arm nehmen, weil ich gebrochene Rippen habe.“
    Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
    „Es tut mir leid. Ich hätte es dir vorher sagen sollen. Aber wahrscheinlich hättest du mir dann verboten zu laufen. Das ging nicht. Der Lauf war lebenswichtig für mich.“
    Entsetzen in seinen Zügen. Aber er schien eine Vermutung zu haben.
    „Lass uns später darüber sprechen. Jetzt möchte ich mich nur freuen. Freuen. Freuen!“
    Das letzte Wort schrie ich, was in der Menge der anderen Geräusche völlig unterging.
    Tim entspannte sich etwas, nahm mich sehr behutsam an meinen Schultern und führte mich nach draußen. Gern ließ ich es geschehen und fragte mich im Stillen: Wohin führte er mich? Wohin führte mein Leben?

RESET
    Am Montag hatte ich ziemlich heftige Schmerzen, als ich morgens aufwachte. Die Füße waren wund, die Muskeln brannten, der Rücken war steif. Offensichtlich war ich während des Laufs doch etwas verkrampft gewesen.
    Karl war zum Glück schon im Büro und hatte aus welchen Gründen auch immer akzeptiert, dass ich ihm heute nicht das Frühstück zubereitet hatte. Meine Bitte vom Samstag vor dem Marathon war erhört worden.
    Mit schlurfenden Schritten ging ich in die Küche und überlegte, welches Frühstück ich mir gönnen sollte. Laut Ernährungsplan musste ich einige Defizite wieder ausgleichen. Hatte ich darauf aber auch Lust? Nein, meldete sich meine lustorientierte Stimme.
    Also die wenigen Schritte Richtung Bäcker Trüb gegangen und dort in die Auslage geschaut. Herr Trüb selbst stand heute früh im Geschäft und schaute mich anerkennend an.
    „Sie standen heute in der Zeitung, Frau Röder. Eine Zeit von 3 Stunden und 21 Minuten für einen ersten Lauf: Das ist sensationell.“
    Ups. Das wusste ich noch gar nicht.
    „In der Zeitung?“, fragte ich nach.
    „Ja, die FAZ veröffentlicht im Lokalteil immer die komplette Ergebnisliste mit allen Teilnehmern.“
    Gut zu wissen. Wollte ich es lesen? Nein. Ich wusste ja nun Bescheid. Viel interessanter war die Tatsache, dass ich offensichtlich aus dem Schatten meines Mannes herausgetreten und zu einer eigenen Persönlichkeit geworden war.
    „Was sollte man denn nach einem solchen Marathon am nächsten Morgen zum Frühstück essen?“, fragte ich ein wenig kokett.
    Schmunzelnd schaute er mich an. „Ganz einfach. Was Sie möchten. Was darf ich Ihnen einpacken?“
    „Ein Joggingbrötchen vielleicht?“
    Er lachte. Mich lachte das Fünfkornbrot an. Ich hatte im Kühlschrank noch Frischkäse und Butter. Einen Hauch Honig obendrauf und einen richtig starken Kaffee: Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Also wählte ich dieses Brot und kaufte voller Lust noch einige andere Leckereien. Heute würde ich meinen Erfolg feiern!
    Nach dem Frühstücksfest ging ich spazieren, um die schmerzenden Muskeln ein wenig aufzulockern. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich erneut gut in der Zeit war. Schließlich hatte ich um 11 Uhr einen Termin beim  Friseurwerk  vereinbart. Der Marathonlauf war meine Zeitenwende für den Eintritt in mein neues Leben. Zeitgenau. Haargenau. Dazu gehörte, dass ich mir meine langen Haare abschneiden lassen und zukünftig eine Kurzhaarfrisur tragen würde.
    Als ich den Laden betrat, begrüßte mich Severine außergewöhnlich herzlich. Ganz spontan und ganz gegen ihre Art nahm sie mich in den Arm. Ich musste mich wegen meiner Rippen steif machen.
    „Herzlichen Glückwunsch. Du bist die erste Marathonläuferin aus dem Jossgrund.“
    Es konnte nicht anders sein: Severine war immer hervorragend informiert über alle Geschehnisse im Jossgrund. Wenn sie es sagte,
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