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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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beachten sollte. Mein Tim Hotzenplotz. Um die Zeit von weniger als dreieinhalb Stunden zu erreichen, musste ich Walkingpausen einlegen. Als optimaler Rhythmus hatte sich das Muster ergeben, alle zehn Minuten 30 Sekunden zu walken. Ich verlor in dieser halben Minute natürlich etwas Zeit, aber der Nettoeffekt war größer, weil sich mein Puls enorm rasch erholte und ich das hohe Tempo bis fast an meinen Maximalpuls wieder für zehn Minuten durchhalten konnte. Tim hatte mir eingeschärft, mich keinesfalls von Zuschauern oder anderen Läufern irritieren zu lassen. Diese Strategie war recht unbekannt und wurde nur äußerst selten eingesetzt.
    In der Tat war zu spüren, wie manche voller Freude oder auch Mitleid, so interpretierte ich es in ihre Gesichtszüge hinein, an mir vorbeizogen, wenn ich meine Walkingpause einlegte. Wenig später zeigte sich aber Überraschung in den Gesichtern, weil ich mit hohem Tempo an ihnen vorbeizog – und das dauerhaft.
    Ein Mitläufer hatte fast dasselbe Durchschnittstempo wie ich. Er schüttelte mehrfach den Kopf, weil er meine aus seiner Sicht verrückte Strategie wohl nicht verstand. Wir waren wie Hase und Igel. Mal führte er, und ich fiel zurück. Dann überholte ich ihn wieder, musste ihn in der Walkingpause aber ziehen lassen. Dieses Spiel wiederholte sich insgesamt fünf Mal. Dann hatte ich ihn dauerhaft hinter mir gelassen, weil ich mein läuferisches Tempo vollständig aufrechterhalten konnte, er aber immer langsamer wurde.
    Ab Kilometer 30 wurde es hart. War das der oft geschilderte Teil, in dem viele einbrachen? Ich führte es auf die Umgebung zurück. Die Mainzer Landstraße verlief fünf, sechs Kilometer lang nur geradeaus. Das empfand ich jetzt als eintönig. Die Kurven und wenigen Steigungen zuvor hatten offensichtlich doch viel Abwechslung gebracht.
    Zweifel kamen auf. Was machte ich? Warum lief ich eigentlich? Lief ich mir und meinen Problemen davon?
    Verrückte Ideen schossen mir in den Kopf. Wenn ich jetzt einen Herzinfarkt bekäme und sterben würde: Hatte mein Leben einen Sinn gehabt? Die erschreckende Antwort versetzte mir einen Stich: nein! Mein Leben war sinnlos und leer. Voller Qual, Pein und Schmerzen. Wie wäre es, wenn ich nicht leben würde? Ich stellte mir vor, dass ich ungeboren sei und mir jemand in Sekundenbruchteilen meines persönlichen Urknalls Leben und gleichzeitig auch Bewusstsein einhauchen würde. Ein weißes, unschuldiges, leeres Blatt Papier. Schritt für Schritt füllte es sich mit Schrift. Was sollte auf dem Blatt stehen? Qual, Schmerz, Pein? Dafür brauchte man nicht ins Leben zu treten. Die Antwort hieß doch sonnenklar: Freude!
    Also redete ich mir gut zu: Weiterlaufen, ans Ziel kommen, einen neuen Weg durch das Leben finden.
    Die Mainzer Landstraße erschien mir unendlich lang. Ich brauchte einen mentalen Anker. Die gerade Straße. Ein Tunnel. Die Läufer erzeugten einen Sog. Ich ließ mich ziehen und setzte mir Menschen als Zwischenziele. Fast hätte ich vergessen, meine Walkingpause einzulegen. Doch die Uhr piepste mich mahnend an.
    Nur noch sechs Kilometer. Die dicht gedrängte Innenstadt hatte uns wieder. Nun war viel Abwechslung und Spannung zu spüren. Die Aufregung der Menge ließ die geschmolzenen Adrenalinreserven wieder spürbar ansteigen. Ich war empfänglich dafür. Hatten so in früheren Tagen einige Gladiatoren ihre unglaublichen Kämpfe gegen wilde Tiere oder eine feindliche Übermacht an menschlichen Gegnern überstanden und gesiegt?
    Ich spürte eine Leichtigkeit, die wunderschön war. Meine Gedanken flogen ins Ziel: Ob Tim mich dort erwartete? Mein Körper flog den vorauseilenden Wünschen und Sehnsüchten hinterher. War ich auf dem Weg in mein neues Leben? Konnte Tim in diesem eine Rolle spielen? Was war mit Karl? Wie konnte ich mich von ihm trennen? Er würde mich doch nie gehen lassen.
    Der rote Teppich war zu sehen und gleichdarauf auch zu spüren. Mein Körper bewegte sich wie eine Maschine und hatte sogar noch Reserven für einen kleinen Schlussspurt.
    Im Ziel angekommen, war ich so bewegt und glücklich, dass ich fast vergaß, meine Pulsuhr zu stoppen. Ich hatte sie sowieso nur für meine Laufkontrolle dabei, dennoch war ich neugierig und warf jetzt den ersten Blick darauf. Zur Strategie hatte auch gehört, kein einziges Mal auf die Uhr zu schauen, sondern blind meiner Intuition für das richtige Tempo zu vertrauen und auf die akustischen Signale zu achten. 3 Stunden 21 Minuten! Wahnsinn!
    Ich sprang in die Höhe,
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