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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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direkt am Messeturm. Viele Tonnen Stahl und Aluminium ragten ganz schmal 23 Meter in die Höhe. Ein Motor bewegte die Hand dieses Metallmenschen langsam auf ein Werkstück zu. Immer wieder. Schlagend. In Bewegung bleibend. Aber auch eintönig. Seinem Muster nicht entkommend.
    Ich hatte mir vorgenommen, eine Zeit von weniger als dreieinhalb Stunden zu laufen. Sehr ambitioniert, wie Tim sagte. Aber meine Leistungsdaten waren entsprechend gut. Dennoch hatte ich mich nicht im BMW-Block eingeordnet, der für Läufer dieser Zeitkategorie vorgesehen war, und auch nicht am anschließenden Stadt-Frankfurt-Block, sondern im Mövenpick-Block. Das hatte einige Schwierigkeiten gegeben bei der Anmeldung, weil ich als Erstläufer im letzten Block hätte starten müssen. Aber Tim hatte seine Beziehungen.
    Die ruhigen Bewegungen des Hammer-Menschen bauten eine meditative Trance bei mir auf. Ich schaute diesem gleichmäßigen Ablauf zu und ließ mich davon inspirieren. Maschinenmensch. Ich würde den Marathon wie eine menschliche Maschine laufen. Ruhig. Fließende Bewegungen. Unverkrampft. Meine Rippen nicht spürend.
    Es ging los. Mein Puls schnellte trotz dieser Trance und eines ruhigen Anfangstempos steil nach oben. Die psychischen Ströme der Menschenmassen machten sich bemerkbar. Den ersten Kilometer ging ich eher verhalten an, den zweiten ebenfalls. Schon wurde ich von vielen überlaufen. Das hatten wir so eingeplant. Aber im dritten Kilometer hatte ich mich in mein hohes Tempo eingefunden und lief wie ein Uhrwerk. Nun war es an mir, viele Läufer zu überholen. Die meisten hatten in der Aufregung ein zu hohes Anfangstempo angeschlagen, an anderen flog ich deshalb vorbei, weil ich in einer schwächeren Leistungskategorie gestartet war. Ich fühlte eine wachsende Euphorie: Die von Tim gewählte Strategie ging auf. Ich ließ mich von den vor mir befindlichen Läufern mental ziehen und machte kleine Rechenspielchen im Kopf. Nur nicht ans Laufen denken. Ablenken. Laufen.
    Die Hochhäuser nahm ich gar nicht wahr. Sie bildeten eine schöne Kulisse für meinen Tunnel. Mich zogen die Menschen: die Läufer oder die Zuschauer am Rande der Strecke, die uns mit Fahnen und Rufen anfeuerten.
    Auch wenn das Streckenprofil extrem flach war – der Höhenunterschied zwischen höchstem und niedrigstem Punkt betrug nicht einmal 30 Meter –, waren die kleinen Anstiege für die meisten Läufer eine Bremse. Sie reduzierten das Tempo, wohl um ihren Puls einigermaßen stabil zu halten. Juchhu, meine Strategie war eine andere: Ich hielt das Tempo und genoss dabei ganz besonders, wieder viele Läufer links oder rechts liegen lassen zu können. Der höhere Puls machte mir kein Problem.
    Dann machte ich einen Fehler. Ich wollte durch eine erkennbare Lücke zwischen zwei Läufern hindurchstoßen, hatte aber nicht damit gerechnet, dass die Lücke sich plötzlich schloss, weil einer der beiden seinen Kurs ein wenig änderte. Prompt kollidierte ich mit seinem Ellbogen, der mir an den Brustkorb stieß. Ein brennender Schmerz schoss mir in den ganzen Körper. Die Plastikschale hatte Schlimmeres verhindert. Dennoch wurde es mir kurz übel. Mein Atem verhedderte sich, ich musste husten und kam ins Straucheln. Mist, da ich Tim nichts von meiner Verletzung gesagt hatte, rächte sich dies nun. Er hätte mich sicher anders eingestellt, so dass mir dieser Fehler nicht passiert wäre. War das Rennen nun für mich vorbei? Sollte ich auf den Rat von Dr. Kirchhübel hören? Aufhören?
    Ängstlich hörte ich auf die Stimmen meines Körpers und versuchte, mit einem ganz bewusst geführten Atem die Schmerzen wegzuatmen. Nach und nach gelang es mir. Ich spürte, wie ich mich wieder beruhigte. Die Verschalung hatte wohl so gut gehalten, dass nichts verrutscht war. Hatte ich ein Glück!
    Nun war ich vorsichtiger und wich anderen Läufern großräumiger aus. Die Einsamkeit wurde dadurch noch größer. Nach der überfüllten Innenstadt gab es Passagen, an denen nur wenige oder keine Menschen standen. Interessant, den Unterschied zu spüren. Ein ziehendes Element war weg, dafür fühlte ich mich mehr bei mir.
    Wir hatten Sachsenhausen durchlaufen, der Halbmarathon war absolviert, und nach 21 Kilometern war am Schwanheimer Ufer der Main wieder zu sehen.
    Tim hatte mir für diesen zweiten Teil des Rennens eingeschärft, dass ich die Signale der Pulsuhr allerstrengstens – wie Kasper es in der Geschichte vom Räuber Hotzenplotz formulierte, so schoss es mir gerade durch den Kopf –
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