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Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war

Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war

Titel: Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war
Autoren: Paul McAuley
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Schneiden scharf und das Metall sauber zu halten. Auch Schuss- und Energiewaffen befanden sich darin. Handfeuerwaffen, Maschinen- und Scharfschützengewehre; Glaser, deren Strahl einen Menschen von innen heraus rösten konnte; Taser, die Wolken geladener Kontakte abfeuerten; Pulsgewehre, die Plasmanadeln verschossen, die so heiß waren wie die Oberfläche der Sonne. An der gegenüberliegenden Wand des großen Raums befanden sich Gestelle mit Rüstungen sowie Druck- und Taucheranzügen mit eingebauten Atemgeräten. Dort saß Dave #8 zusammen mit seinen Brüdern im Schneidersitz auf dem Boden, während vor ihnen die Einzelteile der Druckanzüge lagen, die sie im Rahmen einer routinemäßigen Wartungsübung auseinandergenommen hatten.
    Dave #8 hielt die Brustplatte seines Druckanzugs auf Armlänge von sich und drehte sie hin und her. Auf ihrer polierten schwarzen Oberfläche waren nur verzerrte Spiegelungen
zu erkennen, doch in dem Kaninchenbau aus verzweigten Kammern, den die Jungen ihr Zuhause nannten, gab es nirgendwo einen Spiegel, und die Brustplatte war das Einzige, das dem ein wenig nahekam. Er versuchte zu erkennen, ob sein Gesicht sich in irgendeiner Weise von dem der anderen unterschied. Denn wenn das der Fall war, würde sich damit auch sein Verdacht bestätigen, dass er anders dachte als sie.
    Er bemerkte nicht, wie sich Vater Solomon in seinen Sandalen mit den Gummisohlen von hinten an ihn heranschlich und den Karabinerhaken öffnete, mit dem sein Schockstab an seinem Gürtel befestigt war.
    Als Dave #8 wieder zu sich kam, während sein ganzer Körper von Krämpfen geschüttelt wurde und sein Mund blutverschmiert war, stand Vater Solomon über ihm und hielt den anderen Jungen gerade einen Vortrag über die Eitelkeit. Dave #8 wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte, und zwar so sehr, dass selbst die Übung, zu der sie Vater Solomon nach seinem Vortrag verdonnerte – ihre Druckanzüge inmitten eines heulenden Schneesturms in der Wetterkammer wieder zusammenzusetzen -, als Wiedergutmachung nicht ausreichen würde.
    In der Gruppensitzung am Abend stand jeder seiner Brüder einzeln auf und tadelte ihn voller Inbrunst, so wie er es in anderen Sitzungen auch getan hatte, wenn sie Unterlassungs- oder andere Sünden begangen hatten. Er konnte ihnen nicht erklären, dass er nach versteckten Makeln im Spiegelbild seines Gesichts gesucht hatte. Es war verboten, den Versuch zu unternehmen, seine Sünden zu entschuldigen oder zu erklären, und er war darauf konditioniert worden, jede Bestrafung für gerecht zu halten. Er wurde bestraft, weil er es verdient hatte.
    Vater Clarkes Predigt bei der Messe nahm das Buch Kohelet, Kapitel eins, Vers zwei zum Thema. Nichtigkeit der
Nichtigkeiten, sprach der Prediger. Nichtigkeit der Nichtigkeiten, das alles ist nichtig. Es war eine Lieblingsstelle der Lektoren, doch Dave #8 wusste, dass sie an diesem Abend direkt auf ihn gemünzt war, ein Röntgenlaserstrahl der Rechtschaffenheit, der seine Seele schrumpfen ließ.
    Rot vor Scham, Elend und Selbstverachtung ließ er einen Videofilm über sich ergehen, in dem in grauenhaften Einzelheiten die brutale Gesetzlosigkeit und der Kannibalismus dokumentiert wurden, die sich während des Umsturzes in den großen Städten Nordamerikas ereignet hatten. Er war sich sicher, dass er auf besonders schwerwiegende Weise versagt hatte. Dass er demnächst ganz bestimmt verschwinden würde. Denn obwohl es schon eine Weile her war, dass der letzte Junge aus ihrer Gruppe verschwunden war – mehr als eineinhalbtausend Tage -, war ihnen eingetrichtert worden, dass ihr Leben stets am seidenen Faden hing, dass sie in jeder Stunde jedes Tages nach Vollkommenheit streben mussten.
    Die Jungen waren stets während der Nacht verschwunden. Die anderen Brüder wachten am nächsten Morgen auf und stellten fest, dass einer von ihnen fehlte, sein Bett abgezogen, seine Truhe offen und leer war. Es gab nie eine Erklärung dafür, und sie brauchten auch keine. Ihre Brüder verschwanden, weil sie versagt hatten, und Versagen wurde nicht toleriert.
    Als er abends im Bett lag, nachdem die Lichter ausgeschaltet worden waren, gab sich Dave #8 alle Mühe, wach zu bleiben, doch seine Konditionierung gewann schon bald die Oberhand über seine Furcht. Er schlief ein. Und war am Morgen überrascht, immer noch in seinem schmalen Bett aufzuwachen, während um ihn herum seine Brüder aufstanden und sich ankleideten. Er fühlte sich wie neu geboren. Nichts hatte sich verändert,
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