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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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sogar ich.» Er macht eine Geste um seinen Hals, als hinge er an einem Strick. «Und dabei werden einem so leicht die Füße kalt.» Er hustet wieder.
    «Die Erben?» fragt der Student. «Wieso die?»
    «Nun, die Herrschaften wissen ja auch nicht, wie sie sich gegeneinander verhalten sollen, mit wem sie sich gut stellen müssen und mit wem nicht. Jeder kann für jeden einmal wichtig werden, keiner darf es sich leisten, es ganz mit einem anderen zu verderben. Also hassen sie sich stumm und mustern einander mit Augen wie Revolvermündungen. Das Schlimmste ist jedoch, jeder hat eine Unmenge Angehörige mitgebracht, die sich in allen Räumen des Hauses breitmachen. Aber wir sind nicht eingerichtet für so viele Gäste. So haben sie in den unteren Sälen schon Hütten und Bungalows errichtet, sie haben dazu kostbare alte Möbel demoliert und Bretter aus der Vertäfelung gerissen. Neuerdings richten sie sogar Feuerstellen auf dem Parkett ein, um ihre Mahlzeiten zu kochen. Die elektrischen Leitungen des Hauses reichen bei weitem nicht aus, um all die Heizöfen, Kochplatten, Radioapparate, Fernsehgeräte und was weiß ich noch auszuhalten. Irgendwann werden wir den fürchterlichsten Brand erleben. Ich gehe herum und flehe die Leute an, aber jeder sagt mir: Warum gerade ich? Keiner will sich natürlich einschränken, ohne daß es die anderen zuerst tun. Am Anfang war das alles ja nur als ein Provisorium gedacht, aber inzwischen haben sich die Herrschaften in diesem Provisorium längst häuslich eingerichtet. Es ist zum Weinen.»
    Der Alte zieht ein schmutzstarrendes Taschentuch heraus und putzt sich die Nase.
    «Von all dem», sagt der Student verwirrt, «habe ich fast nichts bemerkt - außer, daß der Strom oft ausgefallen ist.»
    «Und wie ich selbst in der Luft hänge», fährt der Diener mit klagender Stimme fort, «davon können Sie sich kaum eine Vorstellung machen, lieber junger Mensch! Alle Herrschaften betrachten mich als ihren persönlichen Diener: Tun Sie dies! Besorgen Sie mir das! Aber möglichst schnell! Und ich kann mich nicht wehren, weil ja jeder der neue Herr werden kann. Ich bin dieser Anforderung einfach nicht mehr gewachsen! Und denken Sie nur, man benützt mich sogar, um sich gegenseitig zu bespitzeln. Und ich, ich darf es doch mit keinem verderben! Und das einem Mann, der gewohnt ist, aus dem Denken, aus der Vernunft zu leben! Es ist die Hölle!»
    Der Alte wischt sich mit dem Taschentuch die Augen. «Aber was wird erst sein, wenn die Verhältnisse einmal geregelt sind? Was wird dann aus mir? Sagen Sie mir das! Werde ich meine Stellung behalten dürfen? Wird man mich für diese übermenschliche Arbeit wenigstens bezahlen? Oder stößt man mich trotz all meiner Anstrengung zuletzt doch auf die Straße, alt und gebrechlich wie ich bin? Dieses Damoklesschwert über meinem Haupt lahmt, wie sie begreifen werden, meinen Arbeitseifer. Und eben dadurch säge ich selbst an dem Haar, an dem dieses Schwert hängt! Die Menschen sind grausam! Junger Mensch, Sie sehen vor sich einen Verzweifelten!»
    Schluchzend lehnt sich der Alte an die Brust des Studenten. Dieser streichelt ihn verlegen und murmelt: «Ich sollte zwar eigentlich arbeiten -aber ich habe in den letzten Tagen und Nächten so angestrengt gebüffelt, daß mir ein bißchen Bewegung vielleicht ganz guttut. Wenn ich Ihnen also an die Hand gehen kann, dann...»
    Der alte Diener ist sofort getröstet.
    «Aber gewiß», sagt er, «körperliche Arbeit ist sehr gesund, fast so gesund wie Schlaf. Hier, nehmen Sie gleich den Staubwedel und fangen Sie an! Aber Vorsicht, bitte schön! Machen Sie nichts kaputt!»
    Er geht zur Tür, dreht sich noch einmal um und sagt streng: «Ich komme später vorbei und sehe nach, ob du auch anständig gearbeitet hast. Also gib dir Mühe, Junge, sonst lernst du mich von einer anderen Seite kennen! Hopp, worauf wartest du?»
    Er geht hinaus, und der Student schaut ihm erstaunt nach. Dann zuckt er mit einem blassen Lächeln die Achseln und beginnt, mit dem Wedel abzustauben. In einer Wolke von Staub hält er hustend inne und versinkt in Nachdenken.
    «Moment», murmelt er vor sich hin, «wie war das noch? Ich muß es aufschreiben ...»
    Er geht zu dem Tisch, um den die reglosen Erben sitzen, und beginnt mit dem Finger in den Staub zu schreiben.
    «d sigma hoch zwo gleich c hoch zwo dt hoch zwo... führt man die imaginäre Zeitkoordinate Wurzel minus eins c t gleich x vier ein, dann heißt das Gesetz von der Konstanz der
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