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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel
Autoren: Michael Ende
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dort zugestanden hast», sagte sie haßerfüllt, «wirst du uns wohl nicht abschlagen.»
    Und sie flocht ein kleines, eisernes Grabkreuz in das Netz.
    Von diesem Augenblick an wurde das Netz schwerer und schwerer. Unglückliche gab es ohne Zahl in der Labyrinthstadt, und jeder, der dem Sohn begegnete, flocht irgend etwas von sich in das Netz, einen Schuh oder einen kostbaren Schmuck, einen Blecheimer oder einen Sack voll Geld, ein Kleidungsstück oder einen eisernen Ofen, einen Rosenkranz oder ein totes Tier, ein Werkzeug oder schließlich sogar einen Torflügel.
    Es ging schon auf den Abend zu und damit auf das Ende der Prüfung. Der Sohn kämpfte sich weit vornübergebeugt Schritt für Schritt vorwärts, als ginge er gegen einen gewaltigen, unhörbaren Sturm an. Sein Gesicht war schweißüberströmt, aber noch immer voller Hoffnung, denn nun glaubte er verstanden zu haben, worin seine Aufgabe bestand, und er fühlte sich trotz allem stark genug, sie zu Ende zu bringen.
    Dann brach die Dämmerung herein, und noch immer war niemand gekommen, um ihm zu sagen, daß es nun genug sei. Ohne zu wissen wie, war er mit der endlosen Last, die er hinter sich herschleppte, auf die Dachterrasse jenes turmartigen Hauses geraten, in dem das himmelblaue Zimmer seiner Geliebten war. Er hatte noch nie bemerkt, daß man von hier aus auf einen Meeresstrand hinunterblickte, vielleicht war dieser auch bisher noch nie an der jetzigen Stelle gewesen. Aufs Tiefste beunruhigt wurde der Sohn inne, daß die Sonne hinter den dunstigen Horizont hinabtauchte.
    Am Strand standen vier Geflügelte gleich ihm, und er hörte, obwohl er den Redenden nicht sehen konnte, deutlich, wie sie freigesprochen wurden. Er schrie hinunter, ob man ihn vergessen habe, aber niemand achtete darauf. Er nestelte mit bebenden Händen an dem Netz, doch gelang es ihm nicht, es abzustreifen. Wieder und wieder schrie er, jetzt nach seinem Vater, daß der käme, um ihm zu helfen, dabei beugte er sich, so weit er konnte, über die Brüstung.
    Im letzten, erlöschenden Tageslicht sah er, wie dort unten seine Geliebte, ganz in schwarze Schleier gehüllt, aus der Tür geführt wurde. Dann erschien eine von zwei Rappen gezogene schwarze Kutsche, deren Dach ein einziges großes Bildnis war, das von Trauer und Verzweiflung erfüllte Gesicht seines Vaters. Die Geliebte stieg in die Kutsche, und das Gefährt entfernte sich, bis es im Dunkel verschwand.
    In diesem Augenblick begriff der Sohn, daß seine Aufgabe gewesen war, ungehorsam zu sein, und daß er die Prüfung nicht bestanden hatte. Er fühlte, wie seine traumgeschaffenen Flügel verwelkten und von ihm abfielen, als seien sie herbstliche Blätter, und er wußte, daß er nie wieder fliegen würde, und daß er nie wieder glücklich sein konnte, und daß er, solange sein Leben währen mochte, im Labyrinth bleiben würde. Denn nun gehörte er dazu.

DIE MANSARDENKAMMER IST HIMMELBLAU,
     
    die Wände, die Decke, der Boden, die paar Möbel. Der Student sitzt am Tisch und hält seinen Kopf mit beiden Händen. Seine Haare sind verwirrt, seine Ohren glühen, seine Hände sind kalt und feucht. Kalt und feucht ist der ganze kleine Raum. Und nun ist auch noch das elektrische Licht ausgefallen.
    Er zieht das Buch näher zu sich heran und beginnt noch einmal von vorn. Er muß, er muß das Pensum noch schaffen. Nächste Woche ist das Examen.
    «... Die spezielle Relativitätstheorie gründet sich auf Konstanz der Lichtgeschwindigkeit... P ist ein Punkt im Vakuum... P' ein um die Strecke dsigma entfernter unendlich benachbarter... ein unendlich benachbarter... in F gehe zur Zeit / ein Lichtimpuls aus und gelange nach P' zur Zeit t* dt...»
    Der Student fühlt, daß seine Augen hart und trocken sind wie Hornknöpfe. Er reibt sie eine Weile mit den Fingern, bis sie zu tränen beginnen. Sich zurücklehnend blickt er in der Mansarde umher, ein Verschlag aus Spanplatten, den er sich vor zwei Jahren selbst gebaut hat - in einer Ecke des großen Speichers. Damals mochte er himmelblau , jetzt mag er es nicht mehr. Aber er hat keine Zeit, noch irgend etwas zu ändern. Er hat schon zu viel versäumt.
    Ob sie ihm überhaupt erlauben werden, weiter hier zu wohnen? Er zahlt Miete, natürlich, aber nur sehr wenig. Deswegen hat er sich ja hier eingerichtet. Wer kein Geld hat, kann keine Ansprüche stellen. Aber jetzt, wo der frühere Besitzer des Hauses gestorben ist, werden sie ihm vielleicht die Miete erhöhen. Wo soll er dann hin? Und ausgerechnet
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