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Der Sommernachtsball

Der Sommernachtsball

Titel: Der Sommernachtsball
Autoren: Stella Gibbons
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nichts. Kunstschulen und Wirtschaftsschulen, Sekretärinnenkurse und Journalismusstudien, Hundepflege und Handweberei. Alles sündteuer. Und wozu? Was konnten die Mädchen vorweisen?
    Nichts. Mr Wither hielt sie für unwissend und unfähig, sich korrekt auszudrücken. Sie konnten weder etwas mit den Händen anfangen noch mit dem Hirn. Er bildete sich ein, dass sie nach einer derart allumfassenden Ausbildung über ein ebenso allumfassendes Wissen verfügen sollten wie ein Sir Francis Bacon. Aber dazu war es irgendwie nicht gekommen.
    »Wann, sagtest du, kommt Violas Zug an?«, erkundigte sich Tina bei ihrer Mutter; sie fand das Wither-Schweigen manchmal schier unerträglich.
    »Um halb eins, Liebes.«
    »Also gerade rechtzeitig zum Lunch.«
    »Ja.«
    »Warum fragst du? Du weißt ganz genau, dass Viola um halb eins ankommt«, bemerkte Mr Wither. Er hob langsam den Kopf und musterte seine Tochter missbilligend. »Das hast du doch schon gestern gefragt. Du redest, selbst wenn du nichts zu sagen hast. Eine dumme Angewohnheit.« Sein Kopf senkte sich langsam wieder über seine matschigen Frühstücksflocken.
    »Das hatte ich ganz vergessen«, sagte Tina hilflos. Mit verzweifelter Munterkeit fuhr sie fort: »Hasst du es auch so, am späten Vormittag irgendwo anzukommen, Madge? Zu spät zum Frühstück, aber zu früh zum Mittagessen?«
    Alle schwiegen. Da fiel ihr ein, dass sie auch das schon gestern beim Abendessen gesagt hatte, als man Violas bevorstehende Ankunft diskutierte. Madge und Mr Wither hatten sich wegen des Zugfahrplans in die Haare gekriegt. Sie wurde rot und knetete erneut raschelnd ihre kleinen, trockenen Hände. Wie scheußlich es mal wieder beim Frühstück war! Aber es machte nichts, ihr neues Kostümchen stand ihr wirklich gut, und Viola würde heute eintreffen. Das brachte ein wenig Abwechslung ins Haus; und vielleicht sorgte ihre Anwesenheit ja dafür, dass Vater sich nicht mehr so oft Sorgen machte . Und dass Madge sich nicht mehr so oft mit ihm stritt. Viola war keine aufregende Person, aber immer noch besser als die reine, unverdünnte Familie.
    Tina hatte gerade Selenes Töchter gelesen, ein Buch über weibliche Psychologie, das ihr eine Schulfreundin geliehen hatte, und sie war nun fest entschlossen, all ihren Fehlern und Schwächen, egal wie erschreckend, ja abstoßend sie sein mochten, ehrlich ins Auge zu blicken. (Das Buch warnte seine Leserinnen davor, dass die Wahrheit über einen selbst oft erschreckend, ja abstoßend sein konnte.) Und eine der Wahrheiten, der sie nun ehrlich ins Auge blickte, war, dass sie ihre Familie nicht sonderlich mochte.
    Nicht mal ihren Bruder Teddy, und das war wirklich erschreckend, denn er war schließlich tot, seit drei Monaten.
    Viola war seine Witwe. Sie war kaum ein Jahr lang mit ihm verheiratet gewesen. Und diese Viola kam nun, um bei ihnen auf The Eagles zu leben. Immer wenn Tina daran dachte, dass sie Teddy nicht sonderlich gemocht hatte, fühlte sie sich noch schlechter als ohnehin schon, denn schließlich hatte Viola, die jung und hübsch war und sicher viele Verehrer gehabt hatte, Teddy genommen. Sie musste ihn ja geliebt haben, sonst hätte sie ihn wohl kaum geheiratet. Wahrscheinlich bin ich einfach unnormal, dachte Tina. Allerdings haben wir Teddy als Erwachsenen kaum noch zu Gesicht bekommen. Er hat sein Leben nicht mit seinen Eltern und Schwestern geteilt, so wie andere Männer. Trotzdem, irgendwas stimmt nicht mit mir, dachte sie, wenn ich nicht mal fähig war, meinen einzigen Bruder zu lieben.
    Madge, die bereits an der Tür stand, fragte: »Mama, soll ich dich zum Bahnhof fahren?«
    »Aber dafür wirst du doch gar nicht rechtzeitig zurück sein, Liebes?«
    »Och, das macht nichts; ich kann eher kommen, wenn ich dich fahren soll.«
    Madge fuhr für ihr Leben gern Auto, durfte es aber fast nie, da Mr Wither der Meinung war, dass sie es nicht konnte.
    »Ach, danke, Liebes, aber ich habe schon Saxon gebeten. Er wird den Wagen um zehn nach zwölf vorfahren.«
    »Na gut, wenn dir Saxon lieber ist!«
    »Das ist es nicht, Liebes. Außerdem kann Saxon mittlerweile recht gut Auto fahren.«
    »Will ich auch hoffen, nach zwei Verwarnungen, einem neuen Kotflügel und einem Strafzettel!«
    Madge ging pfeifend hinaus. Mrs Wither wollte sich nach der Zeitung bücken, doch Mr Wither streckte scheinbar abwesend die Hand danach aus, und so überließ sie sie ihm.
    »Willst du heute üben, Tina?«, erkundigte sie sich und drückte im Hinausgehen die schmächtige
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