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Der Sommer der Legenden

Der Sommer der Legenden

Titel: Der Sommer der Legenden
Autoren: Sarah Eden
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tat ihr leid, so ausgeliefert, wie er da vor ihr lag. Wehrlos und verletzlich.
    Zugleich wusste sie, dass er selbst darauf bei anderen nie Rücksicht genommen hatte. Er war nicht das, was man allgemein einen guten Menschen nannte.
    Big John Murdock hatte wie kaum ein anderer seine Spuren im Geschichtsbuch dieses kleinen Landstrichs hinterlassen. Er gehörte zu jener elitären Clique von furchtlosen Pionieren, die den Westen noch in seiner wildesten Zeit erlebt und gezähmt hatten. Einst war er einer der reichsten Männer des Distriktes gewesen. Ein Mann mit Macht und Einfluss, der Gegner wie lästige Insekten behandelte, die zertreten werden mussten. Doch irgendwann - niemand wusste so genau, wann und warum -hatte seine Pechsträhne begonnen. Sein so vielversprechend begonnener Weg hatte langsam, aber unaufhaltsam bergab geführt. Und sein stolzer Besitz, einst ohne Beispiel auf hundert Meilen im Umkreis, war immer mehr heruntergekommen...
    Plötzlich veränderte sich die Tonlage des Röchelns, und Carol, tief in Gedanken versunken, schreckte auf.
    Die Augenlider ihres Onkels flatterten. Das greisenhafte Gesicht veränderte sich extrem, als er die Augen öffnete. Ein fernes Feuer glomm darin - nur ein Abglanz dessen, was früher in seinen Augen gebrannt hatte, aber es genügte, um seiner Mimik ein letztes Mal kalte Entschlossenheit zu verleihen. Seine Stimme vibrierte, als er hervorpreßte: »Da... bist... du... ja...«

    In der nachfolgenden Pause spürte Carol, wie eine Gänsehaut über ihren Rücken rann, und sie wünschte sich, Fisher, ihr Mann, wäre nun bei ihr, um ihre Hand zu halten. Doch er wartete draußen, respektierte den Wunsch des Sterbenden, der darum gebeten hatte, dass sie ihn allein aufsuchte.
    »Du... du wolltest mich sehen... Onkel«, stammelte Carol, ohne den Blick von diesen alten, zwingenden Augen abwenden zu können.
    War es ein Nicken, das den morschen Körper jäh erschütterte?
    »Kleine Carol«, krächzte Big John versonnen. Ich wollte... dich noch einmal... sehen, ehe ich in die... ewigen Jagdgründe eingehe... Verstehst du das?«
    Seine Lippen bewegten sich völlig falsch zu dem, was er sagte. Carol hatte das scheußliche Gefühl, ein Gesicht im Fernsehen zu beobachten, bei dem die Synchronisation den Mundbewegungen nachhinkte. Irgendwie berührte sie dieser Umstand mehr als alles andere. Unterschwellig erinnerte die todgeweihte Gestalt sie an eine leicht defekte Sprechpuppe...
    Absurd!
    Am liebsten hätte sie ihren Onkel gefragt, warum er ausgerechnet nach ihr gerufen hatte. Sie war ihm seit ihrer Kindheit nie wieder begegnet, lebte mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in San Francisco, mehr als tausend Meilen entfernt. Die Nachricht, er läge im Sterben, hatte sie weder erschüttert noch überrascht. Nur sein Ansinnen, sie noch einmal zu sehen, vermochte sie nicht richtig einzuordnen.
    »Was... was kann ich für dich tun?«
    Er lachte wie eine vertrocknete Mumie, und Carol war fast sicher, dass er in diesem Augenblick damit kokettierte, dem Tode so nahe zu sein.
    »Ich wollte dich...« - er machte eine Pause, um Atem zu schöpfen -»... nur noch einmal sehen...«
    Carol nickte verständnisvoll, obwohl sie in Wahrheit immer noch nicht begriff, was ihr den Vorzug verschafft hatte, als einzige Verwandte an das Sterbebett ihres Onkels vorgelassen zu werden.
    »Ich... habe eine... Überraschung für dich...«, flüsterte er, während eine erschreckende Veränderung mit seinen Augen vonstattenging.
    Carol war wie gelähmt vor Schreck, als sie erkannte, dass Big Johns Zeit abgelaufen war, obwohl er ihr offenbar noch so vieles hatte sagen wollen.
    Ein kurzes, trockenes Husten durchlief ein letztes Mal den kraftlosen Körper, dann wich der Atem wie ein langgezogener Seufzer von den fahlen Lippen. Seine Augen brachen endgültig.
    Der große John Murdock, Carols Onkel, war tot.

    Drei Tage später war seine Beerdigung.
    Es regnete in Strömen. Ein Heer schwarzgekleideter Menschen mit dunklen Schirmen, die wie Schilder gegen den Himmel gerichtet waren, stand um das offene Grab und verfolgte, wie der schlichte Sarg langsam in dem schlammigen
    Erdloch versank, begleitet von den salbungsvollen Worten eines ausgemergelten Reverends, der Mühe hatte, sich selbst auf den Beinen zu halten.
    Reverend Storm war einundneunzig Jahre alt, ein persönlicher Freund Big John Murdocks, und jeder in der kleinen Gemeinde Sioux City nahe Santa Fe wusste von diesem Umstand, so dass sich keiner der Einheimischen
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