Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der Gaukler

Der Sommer der Gaukler

Titel: Der Sommer der Gaukler
Autoren: Robert Hueltner
Vom Netzwerk:
vorkommenden Diebstähle damit zu tun hatten, dass auch die Not der Armen nicht geringer wurde? Das strenge Copulationsverbot für mittellose Paare verfehlte ebenfalls seinen Zweck; die Zahl der unehelichen Kinder verringerte sich nicht. War es eigentlich vernünftig, was er tat? War es gar gegen die Natur? Vergeudete er seine Kraft für etwas, das nie gegen die Tatsachen des Lebens siegen würde?
    Die Grübelei verstörte ihn; sie drohte ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Er fühlte, dass ihn diese Gedanken vernichten würden – dächte er sie zu Ende, fände er sich irgendwann auf der Seite jener Geheimbündler und Staatsfeinde, die eine radikale Änderung der bestehenden Ordnung forderten. Seine ganze Existenz, in der er es sich in den Jahren doch einigermaßen kommod eingerichtet hatte, wäre bedroht!
    Er geriet in Panik, und gleichzeitig fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das Volk liebte ihn letztlich genauso wenig wie seinen Vorgänger. Man belog ihn, druckste herum, nutzte jede Unaufmerksamkeit, ihn zu hintergehen. Seine brüderliche, milde Herrschaft hatte das Gegenteil dessen bewirkt, was er erreichen wollte. Er war gescheitert.
    Er hatte das Ruder brüsk herumgeworfen. So milde er zuvor agiert hatte, so drakonisch geißelte er jetzt jedes Vergehen. Und endlich schien das Volk zu parieren. Trotzdem musste er nach einiger Zeit feststellen, dass die Zahl der Gesetzesübertretungen nicht abnahm. Die mörderischen Raufhändel, die Diebstähle, die verbotenen nächtlichen Herumtreibereien lediger junger Männer und Frauen, ihre Tanzgelage in abgelegenen Berghütten, die vorehelichen Schwangerschaften und die in den ersten Winternächten trunken lärmenden Perchten schienen in den letzten Jahren sogar wieder zugenommen zu haben.Ausmerzen, ausrotten, ausbrennen, züchtigen – diese Worte gebrauchte er immer häufiger. Welchen Mist hatten ihm da gewisse Kommilitonen auf der Universität zu Ingolstadt eingeredet? Alle Menschen gleich? Gottbeseelt? Ha! Kathederidioten! Das Volk war nicht edel! In seinen Gesichtern war Falschheit oder Dummheit, jede Ehrenbezeugung ein verlogenes Theater mit miserablen Akteuren, die ihre Rollen unbeholfen und stotternd absolvierten. Ohne Liebe und Gefühl zum Wort, ohne Ahnung, was sie bedeuteten. ›Euer Gnaden‹, ›Wohlgeboren‹, ›Hochwürden‹, ›Durchlaucht‹ – all diese Worte bezeichneten doch etwas! Sie waren doch die Schlüssel zur Idee einer Ordnung, zur einzigen, mit der die wüste Natur des Menschen geregelt werden konnte! Aber die Leute nutzten sie bewusstlos, zerbissen sie in ihren zahnlückigen Mäulern, manschten sie in ihren Dialekt und versahen sie zuletzt mit Bedeutungen, die mit ihrem Ursprung nichts mehr zu tun hatten. War ein ›gnädiger Herr‹ für sie noch einer, der, im Besitz göttlicher oder von Majestäten verliehener Gnade, in der Lage war, diese seinen Untergebenen zuteil werden zu lassen? Oder meinten die Leute damit bereits das Gegenteil? Nämlich einen pomadigen Nichtsnutz und einen überheblichen Dummkopf?
    Er hatte sein Leben vergeudet, vermutlich. Warum bloß hatte er die Welt nicht nehmen können, wie sie war? Was hatte ihn dazu getrieben, die Menschheit erziehen zu wollen?
    Wo in seiner dürren Seele nicht einmal Platz für die Liebe zu einem einzelnen Menschen gewesen war? Ein verzweifeltes Gestocher war seine Ehe gewesen, jeder sibirische Winter wärmer als die Gefühle, die er für seine Gattin gehegt hatte. An ihrem Grab hatte er nach langer Zeit wieder geweint. Um sich.
    Nur wenn er zornig und zum Fürchten gerecht wüten konnte, spürte er, dass in ihm noch etwas wallen konnte. Dann lebte wieder etwas in ihm auf und versah ihn mit jener Energie, die er für seinen Alltag brauchte.
    Und jetzt brauchte er sie. Die Angelegenheit des Monsieur Paccoli war einigermaßen kompliziert. Dass sich der Unternehmernicht völlig korrekt verhielt, lag auf der Hand. Das Problem bestand jedoch darin, dass mit ihm nicht wie mit dem gemeinen Pöbel verfahren werden konnte. Paccoli hatte Beziehungen, und sie schienen bis an den kurfürstlichen Hof zu reichen. Gleichzeitig konnte er es sich als Staatsbeamter keinesfalls leisten, einen derart offenkundigen Gesetzesverstoß ungeahndet zu lassen.
    Der Richter straffte sich. Die Pflicht rief. Er stieß sich vom Fensterbrett ab, machte eine Drehung und bot Paccoli den Sessel an. Der Unternehmer nickte dankend und setzte sich.
    »Sie wissen, Monsieur, weshalb ich Sie um dieses Gespräch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher