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Der Sommer der Frauen

Der Sommer der Frauen

Titel: Der Sommer der Frauen
Autoren: Mia March
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breiter, und es gelang weder ihnen noch ihrer Tante Lolly jemals, sie wieder zu verschmälern. Jedes Mal, wenn Isabel sich klarmachte, dass sie, um endlich mit ihrer Schwester ins Reine zu kommen, lediglich aufhören musste, so stark auf sie zu
reagieren
, reagierte sie. Und zwar heftig.
    Und rannte zu Edward. Sie beide wurden in jenem schrecklichen Winter unzertrennlich. Sie machten lange Spaziergänge durch den Hafen von Boothbay, von einem Pier zum anderen, gegen die Eiseskälte eng aneinandergedrängt, Edwards starke Arme um sie geschlungen, während sie zu den vertäuten Booten hinaussahen, ihr Rücken an seine dunkelblaue L.-L.-Bean-Daunenjacke gepresst, seine Handschuhe wärmend an ihre Wangen gelegt. Sie spazierten kilometerweit am Meer entlang, tranken unterwegs heiße Schokolade, und je weiter sich Isabel von der Pension entfernte, desto weniger unglücklich fühlte sie sich. Eines Abends gegen Ende des Frühlings lagen sie zusammen unter der Eiche im Garten der Pension, hielten Händchen und sahen hinauf zu den Sternen, die verheißungsvoll zu ihnen hinunterblinkten und in Isabel ein Gefühl der Hoffnung weckten.
    «Lass uns einen Pakt schließen», hatte Edward an diesem Abend zu ihr gesagt, den Blick hinauf in den Sternenhimmel gerichtet. «Du und ich, wir bleiben für immer zusammen. Nur wir zwei.»
    Sie hatte seine Hand gedrückt. «Nur wir beide. Für immer zusammen.»
    «Und definitiv keine Kinder. Keine Kinder, die irgendwann trauern müssen und als einsame Waisen enden, so wie wir.»
    Sie hatte sich zu ihm umgedreht und ihn voller Ehrfurcht angesehen, weil er so klug war. Erst sechzehn Jahre alt und schon so weise. «Keine Kinder.»
    Händchenhaltend hatten sie damals im Gras gelegen und in den Sternenhimmel hinaufgesehen, bis Tante Lolly Isabel ins Haus rief.
    Jahrelang hatte Isabel nicht mehr an diesen Pakt gedacht.
    *****
    Heute waren sie beide einunddreißig. Seit zehn Jahren verheiratet. Lebten in Westport, einer hübschen Stadt in Connecticut, in der es von jungen Familien und Kindern nur so wimmelte. Isabel schloss die Hand fester um den Autoschlüssel, den Blick starr auf den klumpigen Nudelteig gerichtet, und dachte daran, wie sie sich vor einem Jahr zum ersten Mal dabei ertappt hatte, in fremde Kinderwagen zu lugen und kleine Gesichter zu beobachten. Wie nie gekannte Regungen sie plötzlich innehalten ließen, sie aus dem Schlaf rissen und sie auf den Gedanken brachten, dass sie und Edward sich vielleicht in der Einschätzung geirrt hatten, wie das Schicksal funktionierte. Bis sie etwa achtundzwanzig, neunundzwanzig gewesen war, war sie mit ihrem Leben zufrieden gewesen. Es gab keinen Mutterinstinkt, der irgendwo an ihr genagt hätte. Doch als Edward dann zusehends mehr auf Distanz ging, sich in sich selbst zurückzog, abends immer öfter länger arbeitete, immer öfter damit anfing, ihr von einem Ereignis aus der Arbeit zu erzählen, nur um kurz darauf mit den Worten «Ach, ist ja auch egal, das verstehst du ja sowieso nicht» wieder abzubrechen, da begann Isabel in sich eine unbekannte Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen konnte, zu verspüren. Bis zu jenem Tag vor inzwischen mehr als einem Jahr, als sie im Krankenhaus, in dem sie ehrenamtlich als Trauerbegleiterin arbeitete, ein Beratungsgespräch mit einer Familie führte. Es handelte sich um eine junge, frisch verwitwete Frau mit einem sieben Monate alten Baby und einer wunderbar fürsorglichen Verwandtschaft. Und plötzlich bat irgendwer Isabel darum, kurz das Kind zu halten.
    Das Gefühl, dieses niedliche, weiche Federgewicht in den Armen zu halten, raubte ihr den Atem. In diesem Augenblick wusste Isabel, dass sie ein Baby wollte, ein Kind. Dass der Pakt, den sie als trauernder Teenager geschlossen hatte, für ihr weiteres Leben nicht mehr von Bedeutung war. Das kleine Mädchen in ihren Armen hatte seinen Vater verloren. Doch das hieß nicht, dass es nicht geliebt wurde, dass es nicht trotzdem ein wunderbares Leben haben würde.
    Isabel vergewisserte sich ihrer Gefühle sehr genau. Schlief so viele Nächte darüber, bis sie sich absolut sicher war. Sie wollte ein Kind. Und wäre am liebsten noch in derselben Sekunde schwanger geworden.
    Vor ein paar Monaten war sie mit der Frage eingeschlafen, wie ihr Kind wohl aussehen würde – würde es Edwards dunkelbraune Haare und seine römische Nase haben oder ihre grünbraunen Augen und das herzförmige Gesicht? Sie war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte im Schutz der
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