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Der Sommer der Frauen

Der Sommer der Frauen

Titel: Der Sommer der Frauen
Autoren: Mia March
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lange, so viel.»
    Hemingway Street Nr. 56 . Der schwarze Mercedes parkt immer gegen 18 : 00 Uhr hinter dem Haus. – Es tut mir leid.
    Isabel fasste in ihre Handtasche und wühlte nach dem Autoschlüssel.
    *****
    Isabel war sechzehn und alles andere als süß gewesen, als sie im Boothbay-Zentrum für trauernde Kinder Edward McNeal begegnete. Er war ihr Jugendbetreuer gewesen und hatte fünf Jahre zuvor bei einem Flugzeugabsturz selbst beide Eltern verloren. Jeden Mittwoch nach der Schule arbeitete er ehrenamtlich in dem Zentrum. Als Isabels Tante Lolly sie, ihre Schwester und ihre Cousine zwei Tage nach dem Autounfall dorthin gebracht hatte, hatte Isabel zuerst eine Sitzung bei einer erwachsenen Betreuerin und dann eine bei Edward absolviert. Schon bei ihrer allerersten Begegnung hatte Edward Isabel mit dem tiefen Mitgefühl in seinen dunkelblauen Augen derart beeindruckt, dass sie eine Sekunde lang völlig vergessen hatte, wer und wo sie war und dass sie ab jetzt und bis in alle Ewigkeit in dieser Hölle gefangen saß, dass ihre Eltern tot waren, einfach so, gestorben, während sie in der Silvesternacht tief und fest und ahnungslos geschlafen hatte.
    Isabel wollte nicht über ihre Eltern reden. Und über den schrecklichen Streit zwischen ihr und ihrer Mutter an jenem letzten Abend erst recht nicht. Sie wollte nicht über ihre Schwester June reden, die überhaupt nicht mehr aufhörte zu heulen. Oder darüber, wie es ihr damit ging, bei ihrer Tante Lolly einziehen zu müssen, in die alte, verstaubte Pension, zu ihrer jüngeren Cousine Kat, die ihren Vater verloren hatte, weil er losgefahren war, um die feierwütigen und betrunkenen Eltern von Isabel und June abzuholen. Sie wollte lieber von Edward hören, wie es für ihn gewesen war, als er vom Tod seiner Eltern erfuhr.
    Also hatte er ihr vom Wesen des Schocks erzählt, der ihn so lange in seinem eisernen Griff gehalten hatte, dass er selbst erst mit großer Verzögerung auf den tatsächlichen Verlust reagiert hatte, und dass er, als der Schock nach einem halben Jahr endlich nachgelassen hatte, monatelang nur noch geweint hatte, egal, wo er war. In der Schule, nachts im Bett unter seiner Decke, in der Kirche, von der sein älterer Halbbruder, der ihn aufzog, dachte, sie könnte ihm helfen, was sie zu einem gewissen Maß auch tat, eine Weile zumindest. Und eines Tages, sagte Edward, merkst du auf einmal, während du mit irgendwas beschäftigt bist, dass du gar nicht daran gedacht hast, und ab da wird es besser. Was passiert ist, wird zu einem Teil von dir, anstatt dich völlig zu bestimmen.
    Bei ihrer zweiten Begegnung war Isabel bereits in Edward verliebt. Genau wie ihre Schwester June, obwohl es bei der eher die Schwärmerei für einen älteren Jungen war. Eine Zeitlang hatten sich die beiden Schwestern, die noch nie besonders gut miteinander ausgekommen waren, auf diesen Konkurrenzkampf konzentriert anstatt auf ihre Trauer, und sie hatten ihre Wut aneinander ausgelassen. «Er steht doch nur auf dich, weil du so nuttig bist!», hatte June geschrien. «Nein, er steht auf mich, weil ich bin, wie ich bin», hatte Isabel zurückgeschrien. «Und das wirst du nie schaffen, du langweilige Arschkriecherin!» Sie hatten einander in jenen ersten Tagen nach dem Unfall fürchterliche Dinge an den Kopf geworfen, und als Isabel Edward von ihren grausamen Streitereien erzählte, hatte er gesagt: «Weißt du, Izzy, wenn neunundneunzig Prozent von dem, was June dir an den Kopf wirft, mit der Wahrheit nicht das Geringste zu tun hat, dann gilt das andersherum genauso. Denk mal darüber nach.» Und das tat sie auch, aber dann fingen Isabel und June trotzdem wieder an zu streiten, bis June irgendwann das schlimmste Geschoss von allen auffuhr und ihrer Schwester den einen Vorwurf vor die Füße knallte, von dem Isabel schwindlig wurde, bei dem sie blass wurde und derart anfing zu zittern, dass June loslaufen musste, um Tante Lolly zu holen.
    Doch schon am nächsten Tag nahmen sie ihren Kampf wieder auf, June bestand darauf, dass sie mit dreizehn auf keinen Fall zu jung für einen sechzehnjährigen Freund sei, und setzte verzweifelt alles daran, Edwards Aufmerksamkeit zu gewinnen, stopfte sich den BH aus und trug Lipgloss mit Pfirsichgeschmack. Tante Lolly sorgte dafür, dass June zu einer weiblichen Jugendbetreuerin wechselte, einem vierzehnjährigen Mädchen namens Sarah, das June irgendwann ebenfalls verehrte. Aber die Kluft zwischen Isabel und ihrer Schwester wurde trotzdem zusehends
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