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Der Schreiber von Córdoba

Der Schreiber von Córdoba

Titel: Der Schreiber von Córdoba
Autoren: Melanie Little
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Christen?
    Glauben sie etwa, wir mischen
    unser »jüdisches Blut« in die Tinte,
    um unsichtbare Lügen niederzuschreiben?
    Papa ist aschfahl.
    Worauf sollen wir denn schreiben? Auf unsere Stirn?
    Ein Schreiber ohne Pergament, sagt er,
    ist genau wie eine Stimme
    in einer Welt ohne Ohren.
      
    Taufen (2)
    Was ich nicht begreifen kann:
    Einst wollten sie die Juden
    um jeden Preis taufen.
    Meine Vorfahren fügten sich ihrem Wunsch.
    Wer von uns heute noch hier lebt,
    ist durchweg Christ.
    In al-Andalus ist kaum noch ein Jude zu finden.
    Warum hassen sie uns denn dann
    immer noch so?
      
    Autodafé
    Ich träume, dass Flammen
    meine Kniescheiben küssen.
    Oder dass mich ein Mann erdrosselt,
    während eine Menge nach meinem Blut schreit.
    Friede sei mit dir, Benveniste!
    Aber am häufigsten träume ich von dem Mann mit dem Auge.
    Er wurde erstickt, ehe man ihn verbrannte –
    aus Gnade. Am Ende hatte er bereut.
    Aber seine Augen blieben offen.
    Wir standen da und schauten zu.
    Als die Flammen seinen Kopf erreichten,
    konnten wir nicht mehr viel sehen.
    Sein Haar fing Feuer und bildete einen Ring aus Rauch.
    Aber nach einer Weile erspähte ich etwas,
    das zu Boden fiel.
    Wir waren weit hinten in der Menge.
    Auf Anordnung war ganz Córdoba da,
    um das Schauspiel zu bezeugen.
    In meinen Träumen jedoch kehrt der Augapfel
    mit grässlicher Genauigkeit wieder.
    Er ist mir so nah wie eine Erbse
    auf meinem Teller.
      
    Kleine Lügen
    Wenn ich aus diesen Träumen erwache,
    schwitze und schreie ich.
    Mama hört mich und kommt herein.
    Sie ist wütend, das weiß ich.
    Nicht auf mich. Sondern darüber,
    dass wir alle gezwungen werden,
    diese scheußlichen Spektakel anzuschauen.
    Und doch tröstet sie mich.
    Wir versuchen sogar,
    die Sache in einen Scherz zu verwandeln.
    »Hast du wieder den Augapfel gesehen?«, fragt sie mich immer.
    »War er rot und blutunterlaufen, weil der Mann zu viel getrunken hat für sein letztes Hurra?«
    Ein- oder zweimal bin ich in Tränen aufgewacht, wie ein Kind.
    Wenn das passiert, sagt mir Mama, dass ich in Sicherheit bin.
    Dass wir alle in Sicherheit sind.
    Alles wird gut.
    Sie weiß, dass ich das nicht recht glaube.
    Sie auch nicht.
    Aber etwas ist erstaunlich
    an diesen beruhigenden Worten.
    An diesen kleinen Lügen, die vorgeben,
    unser Leben sei normal.
    Sie zu sagen und sie zu hören
    fühlt sich forsch an. Das ist vielleicht
    der kühnste Anflug von Rebellion,
    zu dem wir es je bringen werden.
      
    Pergament
    Jetzt ist Yuce Tinto verschwunden!
    Seit mindestens einem Monat
    hat ihn niemand mehr gesehen.
    Nicht einmal in der Kirche.
    Er ist der Mann,
    der uns unser Pergament verkauft.
    Er hat ein gutes Herz.
    Seine Preise sind immer
    um Klassen zu niedrig.
    Papa schickt mich hin. Yuce
    hat keine Frau. Vielleicht ist er krank,
    liegt hilflos in seinem Bett.
    Es ist keiner da.
    Seine Wohnung wurde geplündert.
    Fetzen von Pergament und Papier
    liegen verstreut wie gerupfte Federn
    überall auf dem Boden.
    Alles weist auf die Inquisition hin.
    Auch Yuce ist ein Converso.
    Und ich hörte ihn einmal sagen,
    Juden und Muslime könnten ebenfalls
    in den Himmel kommen, wenn sie gute Menschen sind.
    Wer weiß, wem er sonst noch
    so unüberlegte Dinge gesagt hat?
    Armer Yuce.
    Er hatte einen großen Mund –
    und viele Freunde.
    Schon eines allein ist gefährlich.
    Aber zusammen …
    Mama weint, als sie das hört.
    »Was wird nur aus diesem armen,
    weichherzigen Mann werden?«
    Ich bin selbstsüchtig. Unsere einzige Pergamentquelle
    ist gerade versiegt.
    Ohne sie können wir unsere Arbeit nicht tun.
    Das ist, als hätten wir nichts zu essen.
    Und was, meine arme, weichherzige Mama,
    soll nun aus uns werden?
      
    Sammeln
    Zuerst waren es tote Schmetterlinge.
    Eine Zeit lang römische Münzen,
    die ich in der Erde fand.
    Aber diese Art von Sammeln?
    Die gefällt mir nicht.
    Endlich kann ich
    durch die Straßen streifen. Und doch
    wäre ich lieber zu Hause in meinem Zimmer.
    Niemand bezahlt gerne Schulden.
    Nicht einmal Kunden, die mir einst die Haare zausten
    und mir Süßigkeiten mitbrachten.
    Sie machen Versprechungen.
    (Das kostet nicht viel.)
    Einer gibt mir eine alte Henne, die nicht legt,
    als Gegengabe für ein Gebetbuch,
    dessen Abschrift acht Tage gedauert hat.
    Ich gehe am prächtigen Haus
    von Don Barico vorbei.
    Er schuldet uns nichts.
    Er bezahlt sogar immer im Voraus.
    Oft fügt er noch wunderbare Geschenke hinzu.
    Stattliche Rebhuhnpasteten.
    Kandierte Mandeln. Weiche
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