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Der Schreiber von Córdoba

Der Schreiber von Córdoba

Titel: Der Schreiber von Córdoba
Autoren: Melanie Little
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Geschichte über Herakles ein, die ich kenne.
    Als Kleinkind erwürgte er zwei Schlangen,
    die sein Leben bedrohten.
    Er muss auch Sklaven besessen haben.
    Hat er ihnen gestattet,
    neben ihm zu gehen, wie ich es tue?
      
    Schlagfertige Antwort
    Wir biegen um die Ecke irgendeiner Gasse (ich gebe zu, dass wir uns verirrt haben)
    und platzen mitten hinein.
    In eine lange Reihe von Männern in vornehmen Kleidern.
    Auf ihren Schultern ein Traggestell.
    Darauf sitzt, in Seide gehüllt, eine große Marienstatue,
    ganz, als wäre sie echt und eine Königin.
    Die Männer strahlen vor Stolz.
    Frauen stehen am Wegrand
    und werfen den Männern Rosenblüten vor die Füße.
    Aus einem hohen Fenster in der Nähe
    schreit jemand heraus: »Unsere Muttergottes!
    Unsere Liebe Frau!«
    Die Stimme ist so erfüllt
    von Schmerz und Freude zugleich,
    dass sich mein Nackenhaar sträubt.
    Dann sehe ich, aus dem Augenwinkel,
    Gewänder nach unten gleiten.
    Es ist Amir, platt auf dem Bauch,
    die Lippen am Boden.
    Das ist Gesetz, seit die Christen
    Córdoba von den Mauren zurückerobert haben.
    Alle Muslime müssen sich niederwerfen,
    wenn ein Bildnis von Maria oder Christus
    vorübergetragen wird.
    Amir steht auf.
    Er merkt, wie ich ihn anstarre.
    »Du kniest doch in deiner Kirche nieder,
    oder nicht?«, fragt er mich.
    Sein Spanisch – ich reiße die Augen auf –
    ist geschliffen wie Glas.
      
    Fragen
    Also hat Amir offenbar
    jedes Wort verstanden, das ich gesagt habe.
    Er versucht, nicht zu lächeln,
    während ich seinen Trick zu verdauen suche.
    Aber ein winziges Schmunzeln
    zuckt um seine geschürzten Lippen,
    als wollten sie nicht recht gehorchen.
    Jetzt, auf dem Markt,
    redet er mit den Händlern,
    verlangt soundso viele Oliven (nur ein paar)
    oder soundso viel Salz. (Ich kann nicht sagen,
    dass mir das etwas ausmacht: Ich hasse es, einzukaufen.)
    Aber auf dem Heimweg
    sagen wir keinen Ton.
    Worüber sollten wir reden?
    Was ich am liebsten fragen würde,
    sollte ich unterlassen, das weiß ich.
    Warum ist er ein Sklave? Hat er etwas gestohlen?
    Jemanden getötet?
    Wurde er jemals selber
    auf einem Markt verkauft?
    Wie oft hat er
    eine Peitsche auf seinem Rücken gespürt?
    Kann man sich – wie an die Krämpfe,
    die man beim Schreiben in den Händen bekommt –
    daran gewöhnen?
    Fürchten Sklaven das Morgen?
    Planen sie die Flucht? Träumen sie vom Tod?
    Ich mache ein Spiel daraus. Stelle mir vor, ich würde ihn
    alles fragen, was ich möchte (aber das mache ich nicht).
    Bis wir zu Hause sind,
    habe ich zwei ausgewählt.
    Worauf hoffst du?
    Das ist die eine. Und die zweite:
    Was fürchtest du?
    Wenn ich ein Sklave wäre,
    würde ich, glaube ich, gar nichts fürchten.
    Natürlich hätte ich Angst
    von jedem Peitschenhieb.
    Aber Angst und Furcht
    sind nicht dasselbe.
    Was soll man noch fürchten,
    wenn man nichts mehr hat?
      
    Schüler
    Nach dem Abendessen
    werden die Rollen vertauscht.
    Ich helfe Mama beim Aufräumen
    wie ein Diener.
    Ich schätze, abwaschen ist leicht genug –
    auch für Dummköpfe wie mich.
    Papa und Amir sitzen draußen
    am Feuer.
    (Jawohl, für ihn wird es angezündet!)
    Sie schreiben munter
    auf zwei verschiedenen Tafeln.
    (Amir hat eine alte von mir.
    Nein, niemand hat mich gefragt,
    ob ich etwas dagegen habe.)
    Was sie schreiben?
    Was schon? Arabisch!
    Seht ihr, unser maurischer Sklave
    bringt Papa – dem Meister des Schreibens –
    das Schreiben bei!
    Mama muss mein finsteres Gesicht bemerkt haben.
    »Sei doch etwas freundlicher«, schilt sie.
    »Er ist vielleicht ein Sklave,
    aber Señor Barico hat ihn aus
    gutem Grund zu uns gebracht. Er sollte
    ein Geschenk an Papa sein.
    Ein großes.«
    Ich nicke, sage »Gute Nacht«.
    (Ist das freundlich genug?)
    Aber ich denke: Mama hat
    ihr ganzes wunderbares Talent verloren,
    mich zu trösten!
      
    Mitleid
    Kann es noch schlimmer werden?
    Jetzt werde ich
    von unserem Sklaven bedauert.
    »Meine Sprache ist so schwierig.«
    Er lächelt freundlich.
    »Viele große Männer können sie nicht.«
    Ich verstehe. Er meint, ich halte deswegen
    weniger von Papa.
    Aber das ist nicht der Punkt.
    Niemand hat daran gedacht, mich Arabisch zu lehren.
    Deshalb halte ich weniger von mir selbst.
    Kann man mir einen Vorwurf machen?
    Das Königreich weiß kaum, dass es mich gibt,
    und jetzt bin ich altes Eisen,
    hier, in meinem eigenen Zuhause.
      
    Weh
    Und warum Arabisch?
    Was macht das
    zu einem so großen Geschenk?
    Hebräisch – das könnte uns zwar
    hinter Gitter
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