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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen
Autoren: Daniele Varè
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zweihundert Meter Entfernung ein Haus, das seither niedergerissen wurde — zum Glück, denn es bildete einen Schandfleck für die ganze Nachbarschaft. Das Gebäude an sich war klein und anspruchslos, ward jedoch von einem Turm überragt, der in keinem Verhältnis zur Größe des Hauses stand, eine zinnenbewehrte Spitze und in halber Höhe eine weiß emaillierte Uhr hatte. Viele Jahre lang zeigten die Zeiger dieser Uhr stets zwanzig Minuten nach drei, als wollten sie beweisen, daß hier, in der unmittelbaren Umgebung, die Zeit Stillstand.
    Die Außenmauern hatte man rot getüncht; obwohl sämtliche Häuser ringsum und die Mauer gegenüber alt und verwaschen aussehen, verloren die roten Mauern auch nicht das mindeste von ihrem jugendlich-leuchtenden Teint.
    Soviel ich weiß, war das Haus von dem chinesischen Agenten einer deutschen Firma erbaut worden, der sich nach einem Herrensitz «in europäischem Stil» sehnte. Aber er bewohnte es nicht selbst. Zu ebener Erde hauste ein Schneider mit Namen Ah-ting-fu; er hatte ein Schild in englischer Sprache, allerdings auf einer Tafel, wie sie meist nur für chinesische Schriftzeichen verwendet wird. Gleich den Ideogrammen auf orientalischen Schildern hob sich die Aufschrift in schönen, schwarzlackierten Buchstaben von einem altgoldenen Hintergrund ab. Es stand kein Name auf dem Ladenschild des guten Mannes, nur die Mitteilung, er sei ein
     
    Schneider himmlischer Hosen
     
    In der kleinen Wohnung im Oberstock hauste eine italienische Familie: Vater, Mutter und ein Töchterchen. Der Vater arbeitete bei der Kin Han — der Eisenbahn, die Peking mit Hankau verbindet. Er war ein hübscher Mensch mit fröhlichem Gesicht und optimistischer Weltanschauung, die durch seine Verhältnisse nicht im mindesten begründet schien. Er hieß Cante de’ Tolomei.
    To-la-yê, wie ihn die Chinesen nannten, oder Signor Cante, wie er bei den anderen Ausländern hieß, war nicht der einzige Angestellte der Kin Han, der in meiner Nähe wohnte. Einer seiner Kollegen, ein Russe, hatte ein großes chinesisches Haus mit Garten weiter unten in der Straße gemietet. Ich kannte die russische Familie vom Sehen (die meisten Ausländer in Peking kennen einander vom Sehen) und grüßte die Dame, wenn ich ihr begegnete. Sie war eine große stattliche Frau und gemahnte mit ihren riesigen Händen und Füßen an ein Zugpferd. Ich hatte einmal mit ihr zu Mittag gegessen — das heißt am selben Tisch —, nämlich im Speisewagen des Peking-Mukden-Expreß. Dieses Mittagessen wird mir unvergeßlich bleiben: ich bat die Dame, mir Butter zu geben, was sie liebenswürdigerweise auch tat, indem sie mir einige Kügelchen mit den Fingern herschob. Da ich nicht unhöflich sein wollte, müßte ich die Butter essen, die man mir im wahrsten Wortsinn «übergeben» hatte.
    Das Oberhaupt der russischen Familie arbeitete im Pekinger Büro der Eisenbahngesellschaft, Signor Cante aber war fast ständig auf der Strecke unterwegs. Sein Hauptquartier lag in der Nähe der Brücke über den Gelben Fluß, nordwärts von Kai-feng Fu. Wegen der ewigen Unruhen in den Inneren Provinzen hatte er Frau und Tochter in Peking untergebracht. Ich habe die Frau vielleicht ein paarmal gesehen, kann mich ihrer aber kaum erinnern. Sie starb im Sommer 1905 an Typhus. Damals zählte das Mädchen sieben Jahre. Tagsüber besuchte sie eine Schule, die von französischen und italienischen Nonnen geleitet wurde und im Norden des Diplomatenviertels lag. An Sonn- und Feiertagen spielte sie meist in meinem Garten.
    Das erstemal kam sie ins Haus — wenn ich mich recht erinnere —, um ein verlaufenes Kätzchen zu suchen. Im Laufe der Zeit freundete sie sich mit dem «Hüter der Tore» und den anderen Boys an und erschien dann und wann, um in den Höfen oder im Garten zu spielen, ohne daß jemand sie beachtete. Ich fragte Unvergleichliche Tugend, wer sie sei, und erhielt die Auskunft «Kuniang», das heißt Mädchen, so daß ich nicht viel klüger war als zuvor. Nachdem ich aber erfahren hatte, die Kleine sei Signor Cantes Tochter, gab ich den Boys die Weisung, sie gut zu behandeln — eine überflüssige Mahnung, denn die Chinesen sind von Natur aus kinderlieb —, und bald folgte meine ganze Dienerschaft Kuniangs leisestem Wink. Eines Sonntags lief sie über den Gartenweg, fiel nieder und riß sich das Knie auf. Ich brachte sie in mein Zimmer, wusch die Wunde und schenkte ihr ein Stück Schokolade; danach schlug sie sich so oft die Knie wund, daß mir der
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