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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen
Autoren: Daniele Varè
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jeder Chinese, der mich sprechen will, Zoll zahlen. Ich würde gern auf die Dienste des K’ai-men-ti verzichten. Aber das wäre gegen alles Herkommen.
    Der Tingchai ist eigentlich ein Briefträger und macht Wege in die Stadt, um kleinere Aufträge zu erledigen. Früher hatte ich einen ausgezeichneten Tingchai, aber der war zu klug für derart mindere Arbeit: er trat aus meinen Diensten, um sich dem Schreiben anonymer Briefe zu widmen.
    Es ist mir unerfindlich, warum er diese Briefe — anonym oder nicht anonym — nicht auch während seiner Dienstzeit bei mir schreiben konnte. Zeit hatte er genug. Genausowenig verstehe ich, daß er aus diesen Briefen, die doch anonym sind, ein ausreichendes Einkommen beziehen kann. Ich glaube eher, daß er sich für Erpressungen spezialisierte und dank dieser Kunst Anstellung bei einer Verbrecherbande gefunden hat oder bei einem politischen Klub.
    Mein jetziger Tingchai ist ein siebzehnjähriger Bursch, dessen Verstand einiges zu wünschen übrigläßt; zudem stottert er so jammervoll, daß man ihn kaum versteht. Ich stellte ihn nur mit Rücksicht auf die zahllosen Vorstöße seines Großvaters an; dieser Großvater war ehedem kaiserlicher Leibgardist gewesen und mußte nun mit einem Wächterposten in einem der kleineren Pavillons des Sommerpalastes und mit einem Einkommen von drei Dollar im Monat vorliebnehmen. Wenn man dem Alten glauben darf, hat er mit diesem Betrag eine Familie zu erhalten, die aus zwei Ehefrauen, zwei Schwiegermüttern und zwei Söhnen mit eigener Familie besteht! Mein jetziger Tingchai ist der einzige Enkel, der mehr zählt als zwölf Jahre.
     
     
     

4
     
    Hinter den Pavillons, die den ersten Hof abschließen, liegen die Wohnungen der Dienerschaft. Die Diener oder Boys sind alle miteinander verwandt; ihr Familienname ist To, das bedeutet Tugend. Der Boy Nummer Eins heißt To-tai, Unvergleichliche Tugend. Der zweite To-yuè, Tugendhafter Mond. Der Gärtner To-shan, Berg der Tugend; der Koch To-hai, Meer von Tugend, und der Ma-fu oder Stallknecht (der nicht im Haus wohnt) To-ching, Reine Tugend.
    Meine Autorität bei diesen Würdigen sollte unbestritten sein. Aber wie bei den meisten Selbstherrschern gilt der Wille des Herrn nur innerhalb gewisser Grenzen, und die Boys führen den Haushalt weniger meiner Bequemlichkeit als ihrem Nutzen zuliebe. Als einziger Fremder in dieser Gemeinschaft von Asiaten fühle ich mich weniger zu Hause als sie, und das geht so weit, daß in der Nachbarschaft mein Haus das «Heim der Fünf Tugenden» heißt.
    Unvergleichliche Tugend hat als Boy Nummer Eins das Recht, seine Familie in meinem Haus wohnen zu lassen. Die übrigen Boys müssen ihre Frauen und Kinder anderswo unterbringen. Die Familie von Unvergleichlicher Tugend besteht aus einer Mutter, einer Gattin und einer Schar kleiner Kinder, von denen jedes Jahr durchschnittlich eines geboren wird und eines stirbt.
    Es wäre gegen alle guten Sitten, die Gattin von Unvergleichlicher Tugend bei ihrem Namen zu nennen. Wenn er etwas von ihr will, ruft er: «Mutter des Kleinen Lu» (der Kleine Lu ist das älteste Kind). Und so spreche auch ich sie an, wenn ich sie bitte, mir Knöpfe anzunähen oder Socken zu stopfen.
    Die Mutter des Kleinen Lu erinnert mich an einen alten Stich aus dem siebzehnten Jahrhundert, der an der Wand meines Arbeitszimmers hängt; er stellt eine ungemein würdevolle Matrone dar, die am Strand von«Neapolis in Italia» lustwandelt. Quer über den Himmel läuft ein Spruchband, auf dem geschrieben steht: «Ornamenta mulieris: silentium, modestia et domi manere.» Dasselbe könnte man von dieser chinesischen Hausfrau sagen, die so bescheiden ist, das arme Weib, daß sie nicht einmal einen Namen hat.
     
    Unter allen Bewohnern meines Hauses ist die Mutter der Fünf Tugenden das einzige Wesen, das ich ganz und gar nicht leiden kann. Sie wird Lao Tai-tai genannt, das heißt Alte Gebieterin. Ich könnte natürlich sagen, daß ich sie nicht im Haus haben will. Aber dann müßte ihre Nachkommenschaft aus kindlicher Pietät mit ihr wegziehen und anderswo wohnen, und das wäre unbequem.
    Während die Mutter des Kleinen Lu zu Hause sitzt und nicht einen tungdze ausgibt, außer für die dringendsten Notwendigkeiten des Haushalts, treibt sich ihre Schwiegermutter ununterbrochen herum, gibt Geld aus — das Geld ihres Sohnes — und beschwört die Mehrzahl aller Unannehmlichkeiten herauf, die die Familie der Fünf Tugenden treffen. Die Söhne können den Göttern danken,
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