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Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen
Autoren: Daniele Varè
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sollen.»
    «Du denkst noch immer an Strafe. Ich meine ein Erkennungszeichen, wie es in alten Zeiten die Leute einander sandten, zum Beweis, daß sie Hilfe brauchten. Dieses zerbrochene Siegel soll unser Erkennungszeichen sein: jeder hebt eine Hälfte auf, und wer den anderen braucht, schickt ihm seine Hälfte, damit er Hilfe bringe. Verstehst du, was ich meine?»
    «Also so etwas wie ein Spiel?» sagte Kuniang.
    «Nenne es ein Spiel, wenn du willst. Aber wir übernehmen beide damit eine Verpflichtung: wann immer du meine Hilfe brauchst, mußt du mir deine Hälfte des Siegels bringen, und wenn ich dich brauche, schicke ich dir die meine.»
    «Du wirst nie meine Hilfe brauchen.»
    «Woher weißt du das? Kennst du nicht die Geschichte von der Maus, die dem Löwen half? Überdies wirst du eines Tages groß sein. Solange ich die eine Hälfte des Siegels besitze, habe ich ein Recht auf deinen Beistand. Vielleicht wird es dir sogar unangenehm sein, wenn wir einmal so weit halten. Bist du also einverstanden?»
    «Ja, ich bin einverstanden», erklärte Kuniang. Sie lachte wieder über das ganze Gesicht.
    «Übrigens», sagte ich, «war nicht auch der Kleine Lu an der Sache beteiligt? Ich glaube, er hat im Gegensatz zu dir kein Bedürfnis, seine Missetat zu büßen.»
    «Nein. Er schlug etwas anderes vor. Er schlug vor, du solltest das Fenster wie durch einen Windstoß geöffnet finden, einige Papiere und das zerbrochene Siegel auf dem Boden. Dann hättest du geglaubt, es sei ein Zufall gewesen.»
    «Und du wolltest bei diesem Betrug nicht mittun?»
    «Nein. Es kam mir nicht anständig vor, dich zu betrügen. Da hätte ich mich lieber durchhauen lassen.»
    «Schön. Du kannst jetzt wieder laufen. Und vergiß nicht dein Versprechen, mir zu helfen, wenn ich dir das zerbrochene Siegel schicke.»
    Sie nahm ihre Hälfte des Kristalls und verschwand. Die Tür schloß sich hinter ihr, und ich dachte darüber nach, wieviel Kinder wohl den Vorschlag des Kleinen Lu abgelehnt hätten, das Ganze als unglücklichen Zufall hinzustellen. Der Kleine Lu fand bestimmt noch ein böses Ende. Vielleicht in der Regierung.
     
     
     

4
     
    Eines Abends, auf der Rückkehr von einem Ritt in die Umgebung, sah ich, daß Arbeiter Gerüste um das Haus legten, in dem Kuniangs Vater seine Wohnung und Ah-ting-fu seinen Laden hatte. Ich nahm mir nicht die Mühe, nach dem Grund zu fragen: die Sache ging mir nicht nahe genug. Aber als ich im Arbeitszimmer saß, kam Unvergleichliche Tugend herein und machte mir eine Mitteilung, die ihm ungemein wichtig erschien: das rote Haus mit dem Turm sollte niedergerissen werden.
    «Gott sei Dank!» rief ich. «Aber warum? Es ist doch erst vor ein paar Jahren gebaut worden und sieht recht solide aus.»
    Unvergleichliche Tugend war genau unterrichtet.
    «Der Mandarin nebenan hat es gekauft. Er besitzt viele Dollars. Das Haus gefällt ihm nicht. Er sagt, die feng shui sind nicht günstig. Sie bringen Unglück.»
    Das hätte ich erraten können. Die strengen Regeln chinesischer Geomantik waren offenbar durch dieses europäisch gebaute Haus verletzt worden, wahrscheinlicher aber noch durch den Turm, der die Häuser zu beiden Seiten überragte. Die Geister des Wassers und der . Winde waren beleidigt und hatten Unheil über die Nachbarschaft gebracht. Nun mußte das Haus gekauft und abgerissen werden. Mir schien die Angelegenheit durchaus erfreulich, und ich machte auch kein Hehl daraus.
    «Aber Missy Kuniang muß ausziehen», meinte Unvergleichliche Tugend.
    «Ihr Vater wird unschwer eine andere Wohnung finden. Es sind genug zu haben.»
    «Jawohl, Herr. Aber Missy Kuniangs Vater ist nicht in Peiching. Er ist nach Kai-feng Fu gefahren mit dem Feuerwagen.»
    Das also war die Schwierigkeit! Signor Cante befand sich auf der Strecke, und der armen Kuniang wurde das Haus über dem Kopf niedergerissen. Ich erkundigte mich, ob sie nicht in der Klosterschule nächst dem Diplomatenviertel wohnen könne, aber in der Schule war, soviel ich erfuhr, ein Fall von Schafblattern vorgekommen, und die Nonnen wollten keine Pensionärinnen aufnehmen.
    Also kam, was kommen mußte und was die Fünf Tugenden sichtlich für meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit hielten: ich bot der Tochter Signor Cantes Gastfreundschaft an, zumindest bis ihr Vater nach Peking zurückkäme. Ich hätte ihr das «Gastzimmer» zur Verfügung stellen können, zog es aber vor, den Pavillon, der als Rumpelkammer diente — den uns bekannten Fundort der Schreibmaschine
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