Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schneider himmlischer Hosen

Der Schneider himmlischer Hosen

Titel: Der Schneider himmlischer Hosen
Autoren: Daniele Varè
Vom Netzwerk:
beschränkten sich auf den Beschluß der noch jugendlichen republikanischen Regierung Chinas, eine militärische Expedition in die Mongolei zu entsenden, mit dem offen eingestandenen Ziel, dem russischen Einfluß in diesen Gebieten zu begegnen. Die Vorbereitungen umfaßten unter anderem auch die Erbauung großer Hangars für Flugzeuge in Kalgan und die Abfahrt von zweihundert eigens erbauten Autos, von denen jedes vierundzwanzig Mann durch die Wüste transportieren sollte. Ich kannte mein China gut genug, um zu wissen, daß das nur ein «Augenauswischen» war und daß die Expedition in die Mongolei niemals abgehen würde. Aber gewisse Leute konnten einen hübschen, fetten Profit aus den Vorbereitungen herausquetschen, selbst wenn diese nicht über die Veröffentlichung einiger Verordnungen hinausgedeihen sollten. Die Angelegenheit schien daher wenig interessant, außer für die Behörde, die sie anging. So kam es, daß ich nach wenigen Minuten des Lesens einschlief.
    Es muß etwa eine halbe Stunde später gewesen sein, als ich allmählich erwachte; aber noch ehe ich ganz wach war, spürte ich, daß jemand neben mir auf dem Boden saß, mit gekreuzten Beinen wie ein Buddha. Schläfrig starrte ich die Gestalt eine Weile an, dann erkannte ich Kuniang. Sie war hereingekommen, während ich schlief, und wartete sichtlich darauf, mir etwas zu sagen. Ich setzte mich auf, rieb mir die Augen und guckte sie an. Zu meiner Überraschung sah ich, daß ihre Wangen tränenfeucht waren.
    «Was hast du denn, Kuniang?» fragte ich freundlich.
    Sie gab keine Antwort, sondern hielt mir die Hand hin, in der etwas Glitzerndes lag: ein Stück Kristall — eigentlich zwei Stücke, denn es war entzweigebrochen. Ich erkannte das kleine kristallene Siegel, das bei den Federn und Schreibgeräten auf meinem Arbeitstisch liegt.
    «Nun? Das ist mein Siegel», sagte ich. «Was ist geschehen? Hast du es zerbrochen?»
    Kuniang nickte bekümmert.
    «Was hast du denn damit gemacht?»
    «Der Kleine Lu und ich, wir holten es, um einen Brief zu siegeln, den ich auf der Maschine geschrieben hatte. Ich weiß, daß wir deine Sachen eigentlich nicht anrühren dürfen. Aber wir fanden sonst kein Siegel, und das hier hat das doppelte Fu, das ist doch das Zeichen für Glück.»
    Kuniangs Worte stimmten. Es war nicht mein eigenes Siegel, sondern ich hatte es gelegentlich auf dem Jahrmarkt gekauft, der nach dem chinesischen Neujahrsfest in der Liu-li-chang-Straße abgehalten wird. Es war wahrscheinlich für eine Hochzeit graviert worden, denn es zeigte zwei ineinander verschlungene Zeichen für Glück — also zweifaches eheliches Glück.
    Das Siegel bestand aus Bergkristall, der Sockel war glatt und trug die rohgearbeitete Gestalt eines Pekinesen. Eine kleine geflochtene Schnur aus brauner Seide verband den Rücken mit dem darüber gewölbten Schwanz des Hundes. Es war kein wertvolles Stück, aber ich fand es hübsch und ärgerte mich, daß Kuniang es zerbrochen hatte.
    Es mußte auf die Marmorfliesen eines der Höfe gefallen sein, während die Kleine aufgeregt von meinem Arbeitszimmer zur Schreibmaschine lief oder umgekehrt. Der Kristallblock war senkrecht gespalten, und das doppelte Fu zerfiel durch eine unregelmäßige Linie in zwei Hälften. Doch wenn man sie aneinanderhielt, paßten sie tadellos und bildeten aufs neue das vollständige Siegel.
    Kuniang saß da und sah mich schmerzerfüllt an.
    «Soll ich eine Bürste holen?»
    Ich dachte, ich wäre nach meinem Schläfchen zerrauft.
    «Nein, danke», sagte ich, «ich gehe gleich ins Schlafzimmer. Dort kann ich mir das Haar bürsten.»
    «Nein: für mich. Zum Hauen.»
    «Wie kommst du auf die Idee, ich würde dich hauen?»
    «Natascha kriegt immer Haue, wenn sie etwas zerbrochen hat.»
    «Von ihren Eltern wahrscheinlich. Aber du gehörst mir ja gar nicht.»
    «Ich weiß. Ich gehöre überhaupt niemandem.»
    Sie sagte das so traurig, daß sie mir leid tat. Es wäre vielleicht netter gewesen, ihr die Schläge zu verabreichen, die sie dank der Freundschaft mit Natascha erwartete.
    Die beiden Kristallstücke lagen noch immer auf meiner Hand. Man hätte sie wieder zusammenkleben können. Aber Kuniangs letzte Worte: «Ich gehöre wohl überhaupt niemandem», brachten mich auf einen Einfall.
    «Kuniang», sagte ich, «weißt du, was das ist, ein Wahrzeichen?»
    «Wahrscheinlich so etwas wie die Seidene Schnur, die die alte Kaiserin den Leuten ins Haus geschickt hat, wenn sie ihnen sagen wollte, daß sie sich aufhängen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher