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Der Schlüssel zu Rebecca

Der Schlüssel zu Rebecca

Titel: Der Schlüssel zu Rebecca
Autoren: Ken Follett
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Meilen entfernt. Wahrscheinlich gab es auch noch mehr Kamele. Sie suchten nachts nach Laubwerk, und obwohl ihre Vorderläufe gefesselt waren, verschwanden sie manchmal aus dem Blickfeld. Die kleineren Jungen würden sie zurücktreiben, wie er und Ischmael es getan hatten. Die Tiere hatten keine Namen, doch Ischmael kannte jedes einzelne von ihnen und war mit seiner Geschichte vertraut.
    Er erklärte zuweilen: »Dies ist der Bulle, den mein Vater seinem Bruder Abdel in dem Jahr gab, als vier Frauen starben. Der Bulle wurde lahm, deshalb gab mein VaterAbdel einen anderen und nahm diesen zurück. Er hinkt immer noch, siehst du?«
    Achmed hatte viel über Kamele gelernt, aber er verhielt sich ihnen gegenüber nicht ganz so wie ein Nomade. Ihm fiel ein, daß er gestern kein Feuer unter seinem sterbenden weißen Kamel angezündet hatte. Ischmael hätte es getan.
    Achmed beendete sein Frühstück und trat an sein Gepäck. Die Koffer waren nicht verschlossen. Er öffnete den oberen. Als er die Schalter und Instrumente des kompakten Funkgeräts betrachtete, das genau in den ledernen, rechteckigen Koffer eingepaßt war, überkam ihn plötzlich eine lebhafte Erinnerung, wie ein Filmausschnitt: das geschäftige, hastige Berlin, das von Bäumen gesäumte Tirpitzufer; ein vierstöckiges Sandsteingebäude; ein Labyrinth von Korridoren und Treppen; ein Vorzimmer mit zwei Sekretärinnen; ein Büro, das karg mit einem Schreibtisch, einem Sofa, einem Aktenschrank und einem kleinen Bett möbliert war, an der Wand ein japanisches Gemälde eines grinsenden Dämons und ein signiertes Foto von Franco; und jenseits des Büros – auf einem Balkon in Richtung Landwehrkanal – zwei Dackel und ein Admiral mit vorzeitig ergrauten Haaren, der sagte: »Rommel will, daß ich einen Agenten nach Kairo schleuse.« Der Koffer enthielt auch ein Buch, einen Roman in englischer Sprache. Achmed las die erste Zeile: »Gestern nacht träumte mir, ich sei wieder in Manderley.« Ein gefaltetes Blatt Papier fiel aus den Buchseiten. Achmed hob es sorgfältig auf und legte es zurück. Er klappte das Buch zu, verstaute es wieder im Koffer und schloß ihn. Ischmael stand neben ihm. Er fragte: »War es eine lange Reise?«
    Achmed nickte. »Ich bin von El Agheila, in Libyen, gekommen.« Die Namen bedeuteten seinem Cousin nichts. »Vom Meer.«
    »Vom Meer!«
    »Ja.«
    »Allein?«
    »Ich hatte ein paar Kamele, als ich aufbrach.«
    Ischmael war überwältigt. Sogar die Nomaden legten keine so großen Entfernungen zurück, und er hatte das Meer nie gesehen. »Aber warum?«
    »Es hat mit dem Krieg zu tun.«
    »Eine Bande von Europäern kämpft mit einer anderen darum, wer in Kairo die Macht besitzt; was geht das die Söhne der Wüste an?«
    »Das Volk meiner Mutter nimmt an dem Krieg teil.«
    »Ein Mann sollte seinem Vater folgen.«
    »Und wenn er zwei Väter hat?«
    Ischmael zuckte die Achseln. Er begriff das Dilemma.
    Achmed hob den geschlossenen Koffer an. »Kannst du dies für mich aufbewahren?«
    » Ja.« Ischmael nahm den Koffer. »Wer gewinnt den Krieg?«
    »Das Volk meiner Mutter. Es ist wie die Nomaden, stolz, grausam und stark. Es wird die Welt beherrschen.«
    Ischmael lächelte. »Achmed, du hast immer an den Wüstenlöwen geglaubt.«
    Achmed erinnerte sich: Er hatte in der Schule gelernt, daß es in der Wüste einst Löwen gegeben habe; es sei möglich, daß sich einige von ihnen immer noch in den Bergen versteckten und sich von Rotwild, Großohrfüchsen und wilden Hammeln ernährten. Ischmael wollte ihm das nicht glauben. Damals war ihnen die Frage enorm wichtig vorgekommen, und sie hätten sich fast darüber zerstritten.
    »Ich glaube immer noch an den Wüstenlöwen«, sagte Achmed und grinste.
    Die beiden Cousins blickten einander an. Fünf Jahre waren vergangen, seit sie sich zum letztenmal begegnet waren. Die Welt hatte sich verändert. Achmed dachte an all die Dinge, von denen er erzählen könnte: dasentscheidende Treffen in Beirut im Jahre 1938, seine Reise nach Berlin, seinen großen Coup in Istanbul ... Nichts davon würde seinem Cousin irgend etwas bedeuten, und Ischmael dachte wahrscheinlich das gleiche über seine eigenen Erlebnisse während der letzten fünf Jahre. Seit sie als Jungen zusammen nach Mekka gepilgert waren, empfanden sie Zuneigung füreinander, hatten sich aber nie etwas zu sagen.
    Eine Sekunde später wandte Ischmael sich ab und trug den Koffer zu seinem Zelt. Achmed holte sich in einer Schüssel etwas Wasser. Er öffnete einen
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