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Der Ruf Der Walkueren

Der Ruf Der Walkueren

Titel: Der Ruf Der Walkueren
Autoren: Gunnar Kunz
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an. Er fühlte sich gedemütigt. Zornig sprang er nach rechts und hieb nach seinem Lehrer. Es war der plumpe Versuch, Vorteil aus Hagens Einäugigkeit zu ziehen und ihn aus der Deckung seines blinden Flecks heraus zu besiegen. Gislher versuchte es nicht zum ersten Mal, und wie gewöhnlich funktionierte es nicht. Hagen war ein viel zu guter Kämpfer, um sich nicht über seine eigenen Schwächen im Klaren zu sein. Er hatte lange trainiert, um sein fehlendes räumliches Wahrnehmungsvermögen durch Instinkt zu ersetzen und einen Angriff von links blind abzuwehren.
    Stahl traf auf Stahl. Blitzschnell packte der Waffenmeister Gislhers Schwerthand. »Tu niemals in einem Kampf das Offensichtliche«, sagte er. »Dein Gegner rechnet damit.« Er ließ den Jungen los, und als dieser das Schwert hob, um noch einmal zuzuschlagen, rammte er ihm den Schild in den Magen.
    Gislher ging in die Knie und würgte. Als es ihm gelang, sich wieder zu erheben, war er wütend. »Ein Schild ist zum Verteidigen da«, grollte er, »nicht zum Angriff.«
    »Willst du überleben? Dann solltest du dich nicht von eingefahrenen Verhaltensweisen beherrschen lassen. Wenn du auf einen unterlegenen Mann triffst, genügt Erfahrung, im Kampf gegen einen Schwertmeister liegt deine einzige Hoffnung in der Überraschung.«
    Das Tor des Wehrzauns, der die Häuser der Niflungen umschloss, öffnete sich. Gunter kam heraus. Er hatte die Schwertschläge vernommen und wollte in Erfahrung bringen, welche Fortschritte Gislher machte. Aus den Augenwinkeln musterte er Gernholt, seinen anderen Bruder, der gegen die Pfahlwand lehnte und Hagens Technik studierte. Gernholt hatte offenbar einen guten Tag erwischt, sein Gesicht zeigte Farbe, und er nahm seine Umwelt mit wachem Interesse wahr. »Wie macht er sich?«, fragte Gunter, während er sich neben ihm niederließ.
    »Das Übliche. Er kämpft kraftvoll und mutig, aber er ist zu ungeduldig und vernachlässigt die Verteidigung.«
    Gislher hatte einen schweren Stand gegen seinen Lehrmeister; das frustrierte ihn und machte ihn wütend, wodurch er seine Schläge immer unpräziser ausführte.
    »Konzentriere dich!«, befahl Hagen und hieb nach der Hüfte des Jungen. Gislher schützte sich mit dem Schild und schlug seinerseits zu. Mühelos blockte der Waffenmeister den Schlag ab und zielte erneut auf die Hüfte. Unmerklich zwang er seinem Gegner einen Rhythmus auf: Schlagen   – Senken des Schildes   – Schlagen. »Denk an meine Worte«, sagte er, »eingefahrene Verhaltensweisen sind dein Tod.«
    Erst als sein Lehrer das Schwert nach oben riss, als wolle er ihm den Schädel spalten, während er selbst seinen Schild wieder gesenkt hatte, begriff Gislher, worauf der Waffenmeister hinauswollte. Verzweifelt riss er den Schild nach oben, um den Hieb abzufangen. Seine Bewegung war von Panik diktiert, deshalb nahm er sich für den Bruchteil eines Herzschlages die Sicht. Als er seinen Fehler erkannte, als ihm klar wurde, dass Hagen, der listenreiche Taktiker, eine Finte in einer Finte versteckt hatte, war es zu spät. Hagens Schwert beschrieb eine Kurve und bremste knapp vor dem ungeschützten Bauch des Jungen. »Lass dir niemals von einem Feind eine Kampfweise aufzwingen!«
    Gislher gab sich geschlagen. »So gut wie du werde ich nie im Leben«, sagte er. »Vielleicht sollte ich lieber Felder bestellen.«
    »Ein solcher Gedanke ist deiner unwürdig.«
    »Ach, Hagen, sei nicht immer so ernst! Es war doch bloß ein Scherz.«
    Sie steckten die Schwerter ein und gingen zu den Zuschauern hinüber.
    »Gut gemacht, alter Kämpe!« Gunter gab dem Waffenmeister einen freundschaftlichen Hieb auf die Schulter. »Und du wirst auch immer besser, Gislher.«
    Wie Aldrians Söhne so beieinander standen, wurde ihre Verschiedenartigkeit deutlich. Die drei Brüder hätten ungleicher nicht sein können. Gislher war von heiterer, ungestümer Natur, und seine Hände und Füße standen keinen Augenblick still. Gunter war das genaue Gegenteil, nachdenklich, zögernd. Trotz der kräftigen Statur verlieh ihm sein grüblerisches Wesen eine Unscheinbarkeit, die so gar nicht der Vorstellung entsprach, die man sich von einem König machte. Gernholt passte überhaupt nicht zwischen die beiden, nicht nur, weil sein kurz geschnittenes Haar, die Bartlosigkeit und die Form seiner Nase ihm ein römisches Aussehen verliehen, was er noch dadurch unterstrich, dass er sich bevorzugt in tunikaartige Hemdröcke kleidete, sondern mehr noch durch sein abweisendes
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