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Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders

Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders

Titel: Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
Autoren: Klester Cavalcanti
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Mindestlohn. Nicht zuletzt wegen der hohen Inflation in den siebziger und achtziger Jahren werden Einkommen verlässlicher in »Mindestlöhnen« beziffert als in dem jeweiligen Geldwert. [Anm. d. Übers.]

UNTERWEGS ZUM GUERILLAKRIEG VOM ARAGUAIA
    Ein Wolkenbruch ging über dem Urwald nieder. So viel Wasser, dass sich kein Mensch vor die Tür traute. Die Überdachung aus Holz und Stroh konnte die Sturzflut nicht mehr halten, die in der Nacht zuvor losgegangen war, und der Fußboden aus Brettern war durch die vielen Löcher im Dach aufgeweicht. Júlios jüngere Brüder Pedro und Paulo spielten, wer die meisten Tropfen mit der Hand auffangen konnte, bevor sie auf dem Boden aufschlugen. Seu Jorge und Dona Marina lagen Arm in Arm in einer Hängematte, Júlio stand neben der Tür und schaute in den Urwald hinaus. Einen solchen Regen hatte er noch nie gesehen. Der Regen und der Rio Tocantins gingen ineinander über und bildeten einen dichten Vorhang. Es war der Morgen des 21. März 1972, und diese Sintflut musste so schnell wie möglich wieder aufhören. Júlio und seine Freundin Ritinha hatten sich verabredet, um an einem abgelegenen Nebenfluss, einem Igarapé, der sich verborgen ins Innere des Urwalds wand, den Nachmittag miteinander zu verbringen. Nur sie beide ganz allein. Júlio war sich sicher, dass heute der Tag war, an dem er seinen ersten Sex haben würde. Aber wenn es so weiterregnete, würde die romantische Kanufahrt ins Wasser fallen.
    Die Zeit verging, und bis zum Mittagessen sah es nicht danach aus, als würde das Unwetter aufhören. Wegen des Regens waren weder Seu Jorge noch Júlio zum Fischen gefahren, also war kein Fisch im Haus. Die Familie aß Reis mit Ei und lauschte dem Prasseln des Regens auf dem Dach. Doch Júlio hatte keinen Hunger. Immer wenn er angespannt, nervös oder traurig war, verging ihm der Appetit.
    »Was hast du, mein Sohn? Schmeckt das Essen nicht?«, fragte Dona Marina.
    »Nein, ich hab einfach keinen Hunger«, antwortete der Junge und schob den Teller weg.
    »Aber du isst doch sonst so gerne Reis mit Ei. Iss, du hast ja noch kaum etwas angerührt.«
    »Ich mag nicht. Später vielleicht.«
    Während Dona Marina Júlios Essen unter den zwei anderen Söhnen aufteilte, ging der Junge wieder zur Tür. Er sah zum Himmel und suchte nach einem bisschen Blau, vergeblich. Nur schwere, dunkle Wolken. Eine schreckliche Niedergeschlagenheit überfiel ihn. Wie es Ritinha wohl ging? Ob sie sich genauso jämmerlich fühlte? Ob sie, gerade jetzt, auch in den Himmel starrte und darauf hoffte, dass das Wetter besser würde? Und sich genauso danach sehnte, zum ersten Mal Sex zu haben? Er setzte sich auf den Boden, stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände, die wie eine Muschel sein Gesicht umschlossen. Er machte die Augen zu und lauschte der Melodie, die der Regen auf dem Fluss und in den Bäumen spielte. Es war ein langer, anhaltender Ton, schön, aber auch zutiefst irritierend. Júlio mochte Regen, doch nun war es genug. Um die Verabredung mit Ritinha einzuhalten, müsste er jetzt eigentlich schon im Kanu sitzen und zur Siedlung paddeln, wo das Mädchen wohnte. Für die Strecke brauchte er etwa eine Stunde.
    Endlich beruhigte sich das Unwetter, der Junge schöpfte wieder Hoffnung. Mehr und mehr Flecken blauen Himmels zeigten sich zwischen den Wolken. Aber es regnete noch immer. Júlio wollte trotzdem nicht länger warten und sagte zu seinen Eltern, dass er das Kanu nehmen würde.
    »Bei diesem Regen willst du lospaddeln?«, fragte ihn Seu Jorge.
    »Es hat aufgehört, Vater. Ich kann nicht mehr länger hier herumsitzen. Ich komm bald zurück. Gib mir den Segen«, antwortete er.
    »Geh mit Gott.«
    Zum Dorf, in dem Ritinha wohnte, fuhr man auf dem Rio Tocantins. Normalerweise war sein Wasser ruhig, aber der starke Regen hatte den Fluss aufgewühlt und die Strömung verstärkt, was dem Jungen zupass kam, da er mit der Strömung paddeln konnte. Unterwegs dachte er darüber nach, wie es wohl wäre, Sex zu haben. Was würde er empfinden? Würde er alles richtig machen? Onkel Cícero hatte ihm unzählige Geschichten von Frauen erzählt, viele von ihnen Prostituierte. Er hatte sogar vorgeschlagen, den Neffen in ein Bordell in Imperatriz mitzunehmen: »Da gibt es ein paar ziemlich hübsche Mädchen. Das wird dich ganz verrückt machen, Julão.« Aber Júlio wollte »es« nur mit Ritinha machen. Während er vor sich hinruderte, dachte er an den schönen Körper des Mädchens, ihre kräftigen,
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