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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden
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jemand feuerte einen Kanonenschuss ab. Ich fuhr von meinem Stuhl hoch. Mein Herz klopfte. Der Kellner verschüttete keinen einzigen Tropfen.
    Wie sich herausstellte, kam der Schuss von einer Kirche hoch oben am Hang, wo die Geistlichen jeden Sonntag mit etwas Feuerzauber begehen. Aber auf dem Platz von Atrani war der Lärm ohrenbetäubend.
    Es ist nie still in Italien.
    Ich weiß, ich kann mich nicht ewig hier verstecken. Irgendwann in nicht allzu ferner Zeit muss ich wieder Anschluss an die wirkliche Welt finden.
    Schon allein, weil mein Geld nicht mehr lange reicht. Es hat einen Börsencrash gegeben.
    Im Grunde war er ziemlich vorhersehbar. Eine Analyse aus der Zeit der Großen Depression hat in den diversen ökonomischen Schwankungen Zyklen namens »Elliott-Wellen« ausgemacht. Weshalb ergeben diese simplen Analysen brauchbare Resultate? Weil sie Modelle des menschlichen Herdentriebs sind. Die Händler in der Börse treffen keine rationalen Entscheidungen auf Grundlage des Basiswerts einer Aktie oder ähnlicher Faktoren. Sie sehen, was ihre Nebenleute tun, und ahmen es nach. Genau wie wir alle.
    Vorhersehbar oder nicht, der Zusammenbruch hat einen großen Teil meiner Ersparnisse ausradiert. Deshalb muss ich bald abreisen.
    Vorher möchte ich allerdings noch diesen Bericht beenden, und dann… Nun, ich weiß noch nicht genau, was ich damit machen soll, außer ihn Claudio ins Archiv des Vatikans zu schicken. Es scheint mir richtig, dass er aufbewahrt wird. Falls Rosa sich jemals wieder bei mir meldet, bekommt sie ebenfalls ein Exemplar.
    Ich glaube, ich sollte Gina in Miami Beach noch einmal einen Besuch abstatten. Sie sollte erfahren, was aus Rosa geworden ist – sie ist auch ihre Schwester, ob es ihr nun passt oder nicht. Und vielleicht wird Großonkel Lou sich freuen, vom Schicksal Maria Ludovicas zu hören, der mamma-nonna, die mit hundert Jahren noch immer Babys produziert hat, wie man Erbsen aus einer Schote drückt.
    Anschließend kehre ich dann nach England zurück. Aber vielleicht nicht nach London. Irgendwohin, wo es nicht so viele Menschen gibt. Ich brauche einen Job, möchte aber gern als Freiberufler arbeiten. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, in eine weitere große Organisation hineinzugeraten, in der es überall um mich herum von Menschen wimmelt.
    Ich glaube, ich werde auch bei Linda vorbeischauen. Ich habe nicht vergessen, dass ich in jenen schrecklichen Momenten in den Tiefen der Krypta instinktiv ihre Erinnerung heraufbeschworen habe, um darin Unterstützung zu finden. Auf die eine oder andere Weise war sie immer für mich da, seit wir uns kennen. Es gibt eine Menge, worauf man aufbauen kann.
    Im Gegensatz zu Peter weigere ich mich zu glauben, dass die Zukunft festgelegt ist.
    Ich hoffe, eines Tages kann ich das alles hinter mir lassen. Aber manchmal überwältigt es mich. Wenn ich mich in einer Menschenmenge befinde, steigt mir hin und wieder ein Hauch dieses löwenartigen, tierischen Moschusgeruchs der Koaleszenten in die Nase, und dann muss ich mich in mein Zimmer oder in die frische Luft der menschenleeren Hügel über den Städten zurückziehen. Das werde ich nie mehr loswerden. Und dennoch, das weiß ich, werde ich mich irgendwo tief im Innern stets danach sehnen, wieder in diese stickige Wärme einzutauchen, von lächelnden Gesichtern umgeben zu sein, die wie Spiegel meines eigenen sind, und mich der gedankenlosen, liebevollen Glückseligkeit des Schwarms hinzugeben.
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