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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition)
Autoren: Susanne Gerdom
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silberverzierten Buchrücken.
    »Dort oben, links«, half der
Bibliothekar.
    Das graue Licht, das durch die
bleiverglasten Fenster fiel, erhellte den riesigen Raum nur notdürftig.
Schatten hingen wie Spinnweben in den Ecken und tauchten die Decke hoch über
ihnen in tiefes Dunkel. Sallie kletterte auf eine niedrige Leiter und schob das
Buch in seine Lücke zurück. Sie strich noch einmal über den geprägten Rücken,
atmete den Duft aus Leder, Staub, altem Papier und Worten ein und kehrte mit
einem kleinen bedauernden Seufzen wieder auf den Boden zurück.
    »Ich warte morgen auf dich«,
sagte Uhl und erhob sich. »Wenn du nicht kommen kannst, werde ich es ja
merken.«
     
    Sallie sah ihm nach, als er
lautlos die Bibliothek verließ. Dann rückte sie den Stuhl, auf dem sie gesessen
hatte, ordentlich zurecht, schob einen Bücherstapel und das Talglicht wieder in
die Tischmitte und sah sich noch einmal um, ob sie auch alles so hinterließ,
wie sie es bei ihrem Eintreten vorgefunden hatte. Sie nickte, zufrieden mit dem
Ergebnis, und tauchte in die staubige Dunkelheit zwischen den Regalen.
    Bücherrücken bildeten die
Wände der schmalen Gassen und türmten sich weit über ihren Kopf. Hin und
wieder, an einer Kreuzung der Regale, kam sie an einem verlassenen Stehpult
vorüber, auf dem noch Bücher, Papier und Schreibzeug lagen, als sei der
Schreiber nur gerade hinausgegangen – aber sie hatte nie jemanden an einem der
Pulte arbeiten sehen. Es roch metallisch nach Tinte und altem Leder.
    Sallie zählte automatisch die
Quergänge und kleinen Stehpult Inseln, bog nach ihrer Zählung mal links, mal
rechts ab, während sie dem Ächzen des alten Holzes und dem trockenen Flüstern
von Papier und uraltem Pergament lauschte. »Die Bücher unterhalten sich
miteinander, in der Nacht, wenn die große Tür abgeschlossen ist«, flüsterte
sie. Uhl hatte ihr das erzählt, als sie das erste Mal zu ihm in die Bibliothek
gekommen war. Ein kleiner gruseliger Schauder war über ihren Nacken gelaufen –
aber inzwischen mochte sie den Gedanken. Sie malte sich aus, wie die schweren
Folianten mit ihren Nachbarn einen kleinen Schwatz hielten, und die dünneren
Bändchen krochen vielleicht sogar aus ihren Regalen, um Besuche in der Nachbarschaft
zu machen.
    Links, noch einmal rechts, die
große Tür. Es gab mehrere kleine Nebeneingänge in die Bibliothek, aber Sallie
betrat sie immer nur durch die Große Tür. Sie mochte den langen Weg durch die
stillen Reihen der Bücher, auf dem sie den Küchenlärm und die Geschäftigkeit
des Tagwerks Schritt für Schritt hinter sich lassen konnte wie Getreide, das
aus einem löchrigen Sack rinnt.
    Sallie packte mit beiden
Händen die mächtige Drachenkopf-Klinke der Großen Tür und zog. Sie musste sich
mit ihrem ganzen Gewicht an die Klinke hängen, damit die schwere Tür sich ein
Stückchen bewegte, und schlüpfte dann schnell durch den schmalen Spalt. Die Tür
schlug mit einem dumpfen Pochen hinter ihr ins Schloss. Vor ein paar Tagen
hatte sie ihren Rock eingeklemmt und war schier verzweifelt bei dem Versuch,
sich zu befreien. Sie hatte einen langen Riss in dem verblichenen braunen
Wollstoff davongetragen und ein Stückchen ihres Unterrocks war vom Türstock gefressen
worden. In der Nacht darauf hatte sie, auf ihrem Lager sitzend, ihre Kleider
beim Schein eines blakenden Talglichtes geflickt und sich dabei ausgemalt, wie
die Geschichte ausgehen würde, die sie gerade las.
    Heute gelangte sie ohne Opfer
an den Gott der Tür in den Steilen Gang. Die Nachtlichter glommen bereits in
dunklem Orange und warfen einen gespenstischen Schein auf das grob verputzte Mauerwerk.
Ein kalter Luftzug schnitt in ihre Wangen und blies unangenehm um ihre Fußknöchel.
    Sallie zog fröstelnd das
Schultertuch enger und wickelte dann seine ausgefransten Zipfel um ihre Hände.
Vor allem nachts war es eisig kalt im Haus. Den Herrn schien es nicht zu scheren.
Er hatte es sicherlich angenehm warm oben in seinem Turmgemach, mit einem
großen Kaminfeuer oder einem bullernden Ofen und vielen wärmenden, weichen
Pelzdecken und Kissen ...
    Träumend wanderte Sallie den
Steilen Gang hinunter, hinunter und immer weiter hinunter. Ihre Füße fanden den
Weg über die unebenen, oftmals geborstenen Steinplatten, während Sallies
Gedanken an ganz anderen Orten weilten. Der Gang schraubte sich in langen Windungen
in die Tiefe.
    Ohne es wirklich wahrzunehmen,
bog das Mädchen in einen kleinen Seitengang ein. Der Küchentrakt lag im
Ostflügel
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