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Der Nächste, bitte! 13 Morde fürs Wartezimmer

Der Nächste, bitte! 13 Morde fürs Wartezimmer

Titel: Der Nächste, bitte! 13 Morde fürs Wartezimmer
Autoren: Ilse Wenner-Goergen
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möglicherweise eine Ahnung, dass ...“
    Lena fiel ihr ins Wort: „... dass er zu so etwas fähig wäre?“ Es schien, als hätte sie auf diese Frage bereits gewartet: „Ich hatte berechtigte Gründe dafür. In erster Linie wegen dieser Angst bin ich noch bei ihm geblieben, verstehen Sie? Nur deshalb. Ich habe kaum einen Ausweg aus dieser Hölle gesehen“, sie zögerte einen Moment, bevor sie die Psychologin ansah und weiter sprach: “Er hat ja auch immer versprochen, dass er sich ändert. Ich habe ihm geglaubt. Immer wieder geglaubt. Viel zu oft. Viel zu lange.“
    Die Psychologin nickte, griff nach Lenas Hand und drückte sie. „Und Sie wollten sich nun doch befreien?“
    „Ja. Ich hatte mir Hilfe gesucht und gefunden. In einem Frauenhaus.“ Lena trank den Tee, starrte dann einige Momente in die leere Tasse.
    Ganz plötzlich sagte sie nüchtern: „Rufen Sie den Polizeibeamten, dann bringe ich es hinter mich.“
    Im gleichen Moment öffnete sich die Tür erneut, diesmal war es ein uniformierter Polizist, der hereinplatzte: „Wir haben ihn gefunden.“ Er nahm seine Dienstmütze ab, und Lena kam weiteren Worten zuvor: „Ist er ... er ist tot, nicht wahr?“ Sie hatte diese Frage nur geflüstert.
    Der Polizeibeamte zögerte, dann nickte er bedauernd. „Ja. Er ist noch in ein Krankenhaus gebracht worden. Aber…“
    Woraufhin ihm die Polizeipsychologin einen strafenden Blick zu warf und kaum merklich den Kopf schüttelte.
    Lena atmete innerlich auf, ihre Gesichtszüge jedoch verrieten keine Gefühlsregung. Sie umklammerte die Tasse fester, schloss einen kurzen Moment die Augen. Dann begann sie zu erzählen. Wie sie aufgewacht und durch die Nacht gefahren war, voller Panik, und mit dieser Ahnung, die bald Gewissheit werden sollte. Und mit diesem inneren Kompass, der sie leitete.
    Sie wusste genau, was in ihm vorging: Wenn sie, Lena, ihn nicht mehr wollte, dann sollte sie auch das Kind nicht haben.
    Seine Tochter würde er sich so ohne weiteres nicht wegnehmen lassen. Lena kannte seine Einstellung, oft genug hatte er sie damit konfrontiert, viel zu lange hatte sie sich damit von ihm unter Druck setzen gelassen.
    Jetzt tauchte sie wieder in diese gespenstische Szene ein und schilderte, wie sie ihn mit Annemarie auf dem Geländer der Brücke hatte stehen sehen, unter ihnen nichts als felsiger Abgrund. Lena sah, wie der Wind Annemaries Haar zerzauste, wie ihr Nachthemdchen sich aufplusterte. Kurz war ihr der absurde Gedanke gekommen, dass das arme Kind frieren musste, die zarten Füßchen so nackt auf dem kalten Brückengeländer. Und immer noch hörte sie seine Stimme: „Wir werden fliegen, hörst du? Wir fliegen einfach davon, komm‘!“ Im gleichen Moment zogen die Wolken vor dem Vollmond weiter und ließen die Nacht für den Bruchteil einer Sekunde beinahe taghell erscheinen. Lena konnte sehen, wie er nach der Hand der Dreijährigen greifen wollte, und wie die unwillig den Kopf schüttelte, die Ärmchen fest und ängstlich an den kleinen Körper gepresst.
    „Ich zeige es dir, schau!“ Er breitete demonstrativ beide Arme aus und lachte Annemarie hysterisch an. „Siehst du? Das geht ganz leicht! Komm her, ich nehme dich einfach mit.“
     
    Jetzt stockte Lena in ihrer Erzählung, holte tief Luft, starrte weiter nur in die leere Tasse und ordnete ihre Gedanken.
    Keiner der Anwesenden drängte sie weiter zu sprechen. Die Zeit schien einen Moment lang stillzustehen. Jeder hielt den Atem an.
    Lena hatte die Bilder klar vor Augen, doch sie schilderte sie nicht. Denn urplötzlich hatte sie ihre Chance erkannt, sich aus der Regungslosigkeit befreit, war blitzschnell hinter dem Fahrzeug hervorgesprungen und auf die beiden zugelaufen. Panisch hatte sie Annemarie von der Brüstung heruntergerissen und ihrem Mann noch ein letztes Mal hasserfüllt in seine entsetzt aufgerissenen, fragenden Augen gestarrt. Gleichzeitig stieß sie ihm die flachen Handflächen entgegen. „Du kannst doch fliegen!“, waren die letzten Worte, die sie ihm mitgegeben hatte, als er durch ihren Druck das Gleichgewicht verlor.
    Zeit, ihm hinterherzusehen hatte sie nicht. Rasch hatte sie sich dem Kind zugewandt, noch während es dabei war, sich wieder aufzurappeln. Es hatte den Stoß nicht bemerkt. Mit beiden Händen hatte sie dann der kleinen Annemarie die Ohren zugehalten. Solange, wie sein Schrei die Stille der Nacht zerriss.
    „Mama!“ dann hatte sie Annemarie fest in die Arme genommen und erst in diesem Moment die Gefahr realisiert, in
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